Moritz Majce + Sandra Man: Choros V
In Choros V, der bisher größten Arbeit ihrer seit 2016 laufenden Serie zu Raum und Chor, gestalten Moritz Majce und Sandra Man zusammen mit sechs Tänzerinnen und drei Stimmen eine Landschaft im Klimawandel.
Choros ist der antike Name für die kultische Versammlung auf dem Erdboden. Aus ihm gehen der Reigen und der Chor, der Tanzplatz und die Choreographie hervor. Er meint zugleich die Körper, ihre Bewegungen, ihr Sprechen und Singen und den Platz, auf dem sie all das tun. In archaischen Zeiten traf sich eine Gruppe an einem heiligen Ort, unbewohnt und unbewirtschaftet, tanzte, sang und sprach und stampfte einen runden Platz in die Erde. Chor und Reigen waren in Bewegung geratene Skulpturen, noch kein Theater. Um sie herum standen Zuschauer_innen, weder mitmachend noch unbeteiligt betrachtend.
Für Moritz Majce und Sandra Man ist der antike Choros Quelle für gegenwärtige Fragen. Sie interessieren sich für die offenen Zonen, für das, was sich zwischen Ausstellung und Aufführung, zwischen Zuschauen und Mitmachen auftut. Im antiken Choros vor Theater, Protagonisten, Bühne, Handlung finden sie Stoff und Elemente für Räume, in denen sich Körper, Bewegung, Bild und Sprache treffen. Mit der Unbekümmertheit der Außensicht – Moritz Majce ist ursprünglich Bildender Künstler, Sandra Man Autorin – erklären sie dabei Choreographie zur Raumkunst. Dahinter steckt die Arbeit an einem Genre, in dem die Präsenz von Körpern mit der Projektion von Bild- und Sprachräumen zusammengeht. Der antike Choros ist in Bewegung geratene Skulptur; die Raumchoreographie – so nennen sie ihre Arbeiten –- ist in Bewegung versetzte Installation.
In Choros greifen sie Elemente – Boden, Kreis, Gruppe – auf und transformieren sie. Der sakrale Grund wird aufgelöst in eine Vielzahl von Böden, der eine Kreis multipliziert sich in mehrere interferierende, die Versammlung pulsiert zwischen Kollektiv und Ego. Auf verschiedenen Tanzböden (Wiese, Trampolin, Plattform) bilden sich Reigen aus Bildern, Körpern, Stimmen. Sie führen vom um sich selber Kreisen zum mit anderen einen Kreis bilden bis zu großen kosmischen Kreisbahnen.
Sechs Performerinnen wandern von einem Boden zum nächsten und aktivieren ihn. Jede Station ist eigenständig und zieht ihre eigenen Kreise, zugleich strahlen sie aus und der Chor bahnt Wege von einer zur anderen. Die Zuschauer_innen können mitkommen oder bleiben. Man ist – geht, steht, sitzt, liegt – in einer Landschaft, in der eine Performance wiederkehrend ihre Spuren hinterlässt. Choros steht weder wie eine Aufführung einem Publikum gegenüber, noch wie eine Ausstellung um es herum. Die Frage, wie genau in Choros zuschauen und dabei sein, gehört zur Arbeit dazu. In ihr steckt die Einladung an die Besucher_innen, den Raum zu erkunden, Perspektiven zu wechseln, die Umgebung kennenzulernen. Trotz Gleichzeitigkeit und Parallelität verpasst man nichts. Choros ist ein Gesamtkreislauf, in dem die Dinge wiederkehren. So ergeben sich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten unterschiedliche Sichten und Assoziationen.
Choros handelt von einer Zeit, in der für unveränderbar gehaltene Zyklen aus ihren Bahnen geraten. Jahreszeiten, Wetterverhältnisse, klimatische Grundbedingungen verändern die Erde. Mitten im hochtechnisierten 21. Jahrhundert sehen die Menschen plötzlich wieder Natur, starren ungläubig auf brennende Wälder, überflutete Küsten, verwüstete Landschaften, als wären sie auf einem fremden Planeten gelandet. Der Erdkreis, der Boden, auf dem sie glaubten heimisch zu sein, rutscht unter ihren Füßen weg. Es entstehen neue unbewohnbare und unbewirtschaftbare Orte. Was werden sie mit ihnen machen?
Die Beteiligten
Moritz Majce ist in Wien geboren und lebt und arbeitet in Wien und Berlin. Während seines Kunst- und Philosophiestudiums begann er die Möglichkeiten einer Dynamisierung des Verhältnisses von Kunstwerk und Betrachter auszuloten. Er entwickelte die »Einzelaktion«, ein Format zwischen Ausstellung und Aufführung, in der die Zuschauerperspektive als Gegenüber aufgelöst wird in eine Betrachtungsweise, die selbst Teil des Kunstwerks ist. In Bezugnahme auf die antiken Anfänge des Betrachtungsdispositivs der europäischen Kunst und des Theaters und einer damit verbundenen, bis in die Gegenwart wirksamen Aufteilung des Raumes, führt er mit unterschiedlichen Mitteln, von Installation und Skulptur über Performance und Tanz bis Fotografie und Video seine Forschungen zu Blick und Raum weiter. Zusammen mit Sandra Man arbeitet er an einer künstlerischen Praxis, deren Ausgangspunkt die Auffassung von Raum als Geschehen ist, das auch die Körper und Sinne der Zuschauenden umfasst: die Raumchoreographie.
Sandra Man lebt und arbeitet in Wien, Berlin und Obervellach. Sie schreibt, macht Videos, entwickelt Rauminstallationen und -choreographien. Ihre künstlerische Arbeit ist Auseinandersetzung mit Natur. Die Videos sind Blicke ins Freie, auf Landschaft, offene Räume und darin entstehende Bewegungen. Sie arbeitet dafür mit PerformerInnen, aber auch mit den Eigenbewegungen von Pflanzen, Tieren, Wetter. Ihre Texte schreibt sie für Rauminstallationen und Choreographien, sie werden gesprochen, gesungen und vom Publikum gelesen. Ausgehend von eigenen Empfindungen und Wahrnehmungen kreisen sie um die Fragilität und Durchlässigkeit von Körpern, offen für Transformationen in alle organischen und anorganischen Richtungen, von Fleisch bis Stein, von Zelle bis Planet. Sie sind Protokolle von Verkörperungen und Meditationen über einen Weltraum, der alles durchströmt. Dieser bewegte und bewegliche Raum ist auch der Ausgangspunkt für Choreographie als Raumkunst, an der sie mit Moritz Majce zusammen arbeitet.
Zoé Alibert studierte an der Salzburg Experimental Academy of Dance (SEAD). Ein Studienaustausch führte sie an die NYU Tisch School of the Arts, und ein Postgraduiertenstipendium ermöglichte vertiefende Studien Berlin und New York. Ihre Praxis widmet sich Körper-Geist-Präsenz, Kreativität und Flow, sowie Prozessen des Lernens – in (der Verwebung von) Theorie und Praxis, Technik und Improvisation.
Tamar Grosz geboren in Chile, wuchs in Jerusalem auf. Sie machte ihren Schulabschluss an der Academy of Dance in 2008 und war Mitglied der Bathsheba Ensemble Company von 2008-2010. Danach entwickelte sie sich allmählich als Choreographin und arbeitete frei u.a. Ronit Ziv, Idan Cohen, Maya Levi , Sofia Krantz, Sharon Ayal, Ohad Nahrin, Kiani Del Valle. Ihr Solo 'I am not a Jew, Israeli, Vegan, Lesbian, Woman. I am tamar.' erhielt den zweiten Preis für Choreografie beim 19. International Solo-Dance-Theater Festival Stuttgart 2015. Tamar ist außerdem eingeschrieben in den BA Studiengängen Physik und Chemie and der Open University of Israel.
Friederike Heine ist freischaffende Tänzerin, Performerin und Choreografin und lebt in Wien. Ihre künstlerische Arbeit nutzt das diskursive Potential des Körpers und dekonstruiert die Autorschaft von Stücken mit einer (selbst)reflexiven Struktur. Als Performerin arbeitete sie u.a. mit Anne Collod, Adriana Cubides und für Tanz im August sowie auf der Parallel Vienna. Friederike Heine ist Trainings Scholarship Holder 2018 des Tanzquartier Wien und Mitglied der ttp im WUK. Sie studierte an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft Eurythmie und bildete sich intensiv weiter in zeitgenössischem Tanz u.a. am Tanzquartier Wien, bei Impulstanz und The World Is Sound in Berlin.
Julia B. Laperrière seit ihrem Abschluss an der Universität Quebec in Montreal (UQAM) arbeitet Julia international in Europa und Kanada als Choreographin und Performerin. In ihren Kollaborationen mit KünstlerInnen wie Diego Agullo, Alfredo Zinola, Josep Caballero und Michael Müller lässt sie die Grenzen zwischen bildender Kunst und Performance verschwimmen. Als Performerin interessiert sie sich für Großzügigkeit, Energie und Präsenz.
Sonia Noya ist zwischen spanischer und schweizer Kultur großgeworden. Sie war Sängerin einer Punkabilly Band, bevor sie zufällig in der Performance landete, wo sie ihre eigene Praxis aus Ritual, Improvisation und Sound entwickelt. Sie arbeitet u.a. mit Angelica Liddell, Arantxa Martinez, Juan Dominguez und Alexandra Pirici zusammen.
Laura Siegmund studierte am artEZ Institute of The Arts, Niederlande. Hiernach ging sie für ein Engagement bei Sasha Waltz an die Schaubühne am Lehniner Platz nach Berlin. Zeitgleich begann eine andauernde Zusammenarbeit mit der Regisseurin und Bühnenbildnerin Mirella Weingarten. Seit 2011 besteht eine enge Kollaboration mit der Choreografin Margret-Sara Gudjonsdottir.
Susanne Valerie Granzer Ausbildung zur Schauspielerin am Max Reinhardt Seminar Wien, anschließend 18 Jahre lang Engagements in vielen zentralen Rollen an den Staatstheatern im deutschsprachigen Raum (u.a. Theater Basel, Düsseldorfer Schauspielhaus, Schauspielhaus Frankfurt, Schillertheater Berlin und Burgtheater Wien). Parallel zu den Engagements Studium der Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt und der Universität Wien. Promotion 1995 in Wien. Seit 1988 Professorin im künstlerischen Fach Rollengestaltung an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, Max Reinhardt Seminar. 1997 Gründung der wiener kulturwerkstätte GRENZ_film gemeinsam mit dem Philosophen Arno Böhler. Zahlreiche Lecture-Performances im In- und Ausland. Mitbegründerin des Festivals Philosophy On Stage.
Katharina Meves wurde in Deutschland geboren, erhielt ihre Ausbildung an der SEAD, Salzburg, und das DanceWEB Stipendium 2009. Seit 2007 Mitglied von Liquid Loft/Chris Haring, deren Arbeit u.a. 2009 mit dem Goldenen Löwen bei der Biennale von Venedig ausgezeichnet wurde. Als Tänzerin, Schauspielerin und Performerin in Deutschland, Österreich und den Niederlanden tätig, performte sie außerdem in Arbeiten von Georg Blaschke, Mara Mattuschka, Tino Sehgal, Lara Kugelmann, Ingo Reulecke, Lukas Matthaei, Michael Portnoy, Ayat Najafi, der Lubricat Theatre Company, Louise Wagner, Christoph Winkler, Anna Malunat, Franz Rogowski, Andreas Bode und der T.r.a.s.h. Dance Company. Sie spielte in Kurzfilmen von Martin Kers/Kristel van Issum und Mara Mattuschka. ‚Burning Palace’ erhielt 2009 den Preis des Festivals bei den Oberhausener Filmtage. Des weiteren spielte sie in deutschen TV-Produktionen unter der Regie von Andreas Morell und Anno Saul.
Frank Willens studierte an der UC Berkeley Tanz. Er arbeitete und arbeitet u.a. mit Meg Stuart, Falk Richter, Laurent Chétouane, Tino Sehgal, Boris Charmatz, Susanne Kennedy. Parallel dazu realisiert er seine eigenen Stücke. Im Sommer 2012 leitete er die Arbeit This Variation von Tino Sehgal bei der documenta (13) und war auch Teil von Yet Untitled bei der Biennale in Venedig. 2008 wurde er beim Dortmunder Favoriten Festival mit dem Preis des Besten Darstellers für das Solo Bildbeschreibung von Heiner Müller ausgezeichnet.