Wie er den Stift hält!
Auszug aus "Wie er den Stift hält!"
Dank solider Vorbereitung und einem guten Konzentrationsvermögen laufen meine Abende im allgemeinen "rund". Zumindest in den Großstädten. Die Würze der Tourneen sind allerdings die Provinzveranstaltungen. Da kann es ausnahmsweise zu Zwischenfällen kommen.
Ich hatte schon Wespenattacken, Besucher mit Tourette-Syndrom, die unkontrolliert schlimme Wörter ausstießen, auf die Bühne springende Riesenhunde, explodierende Lampen und Boxen, die plötzlich so laut zu brummen begannen, daß das Publikum aufschrie wie in einem Katastrophenfilm. Einmal warf ein Knabe, angestiftet von seiner Mutter, aus dem Dunkel des Raumes ein Stofftier an meine Stirn, was sich im ersten Moment wie ein Kopfschuß anfühlte. Noch unangenehmer war ein Bürgermeister, der zur Eröffnungsveranstaltung irgendwelcher Literaturtage den meine Person betreffenden Wikipedia-Beitrag als eine vermeintlich selbstverfaßte Rede vortrug. Ich saß derweil auf dem Bürgermeistersitz in der ersten Reihe, schwitzte vor Scham und dachte: „So etwas gibt es also wirklich!“ Ja, es gibt alles mögliche. Mitunter auch die Sorte zahlender Besucher, von deren Existenz ich schon in den siebziger Jahren aus den Memoiren von Hildegard Knef erfuhr, nämlich Leute, die extra kommen, um einem zu zeigen, daß sie einen nicht mögen. Pflanzen sich in die Mitte der ersten Reihe, gucken böse und klatschen nicht. Einmal, im Deutschen Theater Göttingen, war es sogar Dr. Stephan, der Direktor meines alten Gymnasiums, der wohl gehört hatte, daß aus einem seiner Schüler etwas seiner Ansicht nach nicht Wertvolles geworden ist und sich nicht zu blöd war, sich im Alter von achtzig Jahren zwei Stunden lang mit verschränkten Armen, schnaubend und kopfschüttelnd direkt vor mich zu setzen.
Ich überlebte auch schon sich erbrechende und in Ohnmacht fallende Zuhörer, Personen, die rausgetragen werden mußten wie seinerzeit bei Vorführungen des Films "Der Exorzist". Einmal, auf einer Theaterbühne in Wien, fiel ich sogar selbst in Ohnmacht: Der Noro-Virus hatte mich erwischt, ganz plötzlich. Peu à peu hingegen rutschte eines Abends in Berlin der Vortragstisch nach vorn, weil die Veranstaltung auf einer aus künstlerischen Gründen schiefen Bühne stattfand; ein anderes Mal hat mir ein Gast in der Pause seinen frisch gezogenen Weisheitszahn auf den Tisch gelegt – wahrscheinlich als Anspielung auf irgendeinen alten Text von mir, aber auf welchen?
Bei einer unvergeßlichen Soirée in einem Stadttheater roch eine Person dermaßen ungewaschen, daß sich um sie herum eine Corona aus unbesiedelten Sesseln bildete. Sogar ich auf der Bühne roch den Mitmenschen. Neulich verzehrte ein allerdings vermutlich äußerst wohlriechender Mann in Basel eine halbe Stunde lang ungeknackt gekaufte Erdnüsse, ich konnte das irritierende Geräusch zunächst nicht deuten, sodaß ich zwischen zwei Texten sagte: "Das hört sich an, als ob jemand seit einer halben Stunde vergeblich versucht, ein Bonbon auszuwickeln."
All dies sind jedoch lediglich Kuriositäten jener Art, von denen vermutlich jeder berichten könnte, der bereits wie ich "1000 plus" öffentliche Auftritte absolviert hat. Reisefreudige Bühnenmenschen erzählen einander solcherlei Döntjes gern im "Franz Diener" oder ähnlichen Künstlerlokalen. Normal sind die aufgezählten Vorkommnisse nicht. Normal ist bei mir ein verständiges, intellektuell geübtes und belastbares Publikum. Hin und wieder finde ich, daß meine Besucher am Ende längerer Texte ein wenig mehr klatschen könnten. Man kriegt eigentlich nur einen guten Applaus, wenn ein Text mit einer Schlußpointe endet. Schlußpointen vermeide ich jedoch normalerweise, weil ich sie als erzwungenes Entertainment-Element empfinde, es sei denn, sie ergeben sich ganz natürlich aus dem dichterischen Prozeß heraus. Andererseits bin ich jedoch froh, daß mir das öde Gelärme erspart bleibt, dem man bei Popkultur-Events ausgesetzt ist. Ich habe mich immer gefragt, wie Popmusiker es aushalten, als austauschbare Gekreisch-Auslöser behandelt zu werden. Nun – viele halten es ja auch nicht lange aus, und so sollte und kann ich mit meinem wackeren, aufmerksamen und kulturell erfahrenen Publikum sehr zufrieden sein. Bin ich auch!
Max Goldt liest am 11. April 2019 im WUK aus Weltstars im Nadelwald.
Text: Max Goldt