Vom Neokolonialismus und Neuer Seidenstraße
Infrastrukturen gelten als operatives Substrat des heutigen globalen Lebens. Transport- und digitale Kommunikationsnetze, die Organisation von Logistiken, Ressourcenströmen und Kapitalbewegungen, sind im Versprechen geschaffen worden, für eine „gemeinsame“ Welt Wohlstand und Wachstum zu optimieren und zu maximieren. Das Kunstprojekt „One Belt. Many Roads“ untersucht in einer kollaborativen Versuchsanordnung an acht Orten entlang Chinas weltumspannender Infrastrukturinitiative „Neue Seidenstraße“, wie sich Neokolonialismus auf diese Orte auswirkt, welche neuen Arten von Abhängigkeiten oder Geographien entstehen oder alte Mechanismen von Abhängigkeitsverhältnissen wiederholt werden.
Der Begriff Infrastruktur tauchte erstmals im 18. Jahrhundert auf und bezog sich im Französischen zunächst auf einen Unterbau für Erdarbeiten im Eisenbahnbau. Das WUK ist heute eine wichtige kulturelle Infrastruktur, dessen Gebäude einst eine Fabrik für Infrastrukturen (Lokomotiven) war, die bis zum Wiener Börsenkrach vor dem Hintergrund der westlichen Frühindustrialisierung und des europäischen Spätkolonialismus des 19. Jahrhunderts erfolgreich expandierte.
Die Erschließung von Gebieten und der Ausbau dafür notwendiger Infrastrukturen, wie Eisenbahnen, galten von jeher als Bekräftigung des Kolonialismus und Imperialismus. Insbesondere im 19. Jahrhundert. Als der deutsche Geograph Ferdinand von Richthofen damit beauftragt wurde, eine direkte Eisenbahnverbindung von China nach Deutschland zu finden, prägte er 1877 den Begriff „Seidenstraße“ bezugnehmend auf den wichtigsten Handelsweg der Antike und des Mittelalters zwischen Ostasien und Europa – und im Kontext des Orientalismus des 19. Jahrhunderts. Richthofen stellte diese Seidenstraße als eine fast gerade Linie dar, obwohl sie in Wirklichkeit ein Netz von Routen war, die über die gesamte Fläche Eurasiens auseinander- und zusammen liefen.
Die Neue Seidenstraße ist das wohl umfassendste globale Projekt, mit dem sich China zur größten Wirtschaftsmacht der Welt erklären will. Offiziell geht es darum, den Warentransport zwischen Asien und Europa durch neue Infrastrukturen zu beschleunigen. Die notwendigen Einrichtungen werden in verschiedenen Korridoren zu Land und zu Wasser geschaffen. Man könnte aber auch von Infrastrukturpolitik sprechen, in der der Bau von physischen Knotenpunkten und Leitungen wie Häfen und Pipelines dazu dient, politische Macht zu festigen. 150 Länder sollen orchestriert, synchronisiert und eingebunden werden. Darunter Österreich. ÖBB und WKÖ haben in den letzten Jahren einige Infrastrukturprojekte zum Logistik-Ausbau für einen Anschluss an die Seidenstraße vorgestellt, die bis nach Wien führen sollen.
Während Chinas frühere Strategie, die Weltmärkte mit Waren, Dienstleistungen, Krediten und Investitionen, mit Arbeitskräften und Technologien zu „überschwemmen“ und in Abhängigkeit zu „verführen“ (Vladislav Inosemtsev), als „weicher Imperialismus“ oder „dritter Kolonialismus“ bezeichnet wurde, hat das neokoloniale Infrastrukturprojekt, das langfristige militärische und soziale Strategien sowie ökologische Umwertungen beinhaltet, noch keinen Namen.
One Belt. Many Roads
Das im Juni in der „WUK Versuchsanstalt“ gezeigte Kunstprojekt„One Belt. Many Roads“ (das sich auf den ersten Namen der Neuen Seidenstraße bezieht, „One Belt. One Road“, heute jedoch „Belt and Road Initiative“/BRI heißt) nimmt den kolonialen 19. Jahrhundert-Mythos der Seidenstraße und die Neue Seidenstraße, beides Erzählungen, die die unvorstellbare Komplexität menschlicher Handlungen, Gedanken und Beziehungen über weite Strecken von Raum und Zeit hinweg vereinfachen und verherrlichen, als methodischen Ausgangspunkt.
Mit acht Kollaborateur_innen aus Ländern entlang der Neuen Seidenstraße untersucht das österreichische Kunstkollektiv Grammatik der Dringlichkeiten, wie sich die Wirkungskette des alten und neuen Kolonialismus in einzelnen Ländern dekliniert, welche neuen Arten von Abhängigkeiten oder neuen Geographien entstehen oder alte Mechanismen der Besetzung reproduziert werden – und wie sie sich zueinander verhalten.
Wie Kasachstan ist Pakistan Teil eines essentiellen Korridors der Neuen Seidenstraße. Aufstände gegen Arbeitsbedingungen und zunehmende Militarisierung lassen dort die kontroversen BRI-Dimensionen erkennen. Tunesien will näher an Europa rücken. Äthiopien ist Teil des alten und des neuen Neokolonislismus Chinas. Und Ägypten ist wie Indonesien vor allem für den neuen maritimen Teil der Seidenstraße durch den Suezkanal ein wichtiger Partner.
Die Methodik von „One Belt. Many Roads“ beruht auf dem Prozess des Sammelns, des Austauschs und Teilen von Geschichten und Erzählungen, die wir im Experiment zusammenfügen.
Ab 1. Juni wird die Versuchsanstalt einen Monat lang zur Ausstellung, eine Ausstellung, die streng genommen keine Ausstellung ist. Sie ist vielmehr ein Dialog mit Besucher_innen, ein erweiterbares Skript, Raum für polyphone Stimmen, für die Erarbeitung von Gegenmodellen und „Nebenprodukten“ der großen Geschichtserzählung, wodurch Platz für das Irreguläre entstehen soll. Mit einem Thementag, „Table Notes“ am 17. Juni, an dem alle Kollaborateur_innen im WUK zusammenkommen und ihre Recherchen präsentieren, soll diese Einladung vertieft werden.
Maren Richter ist freiberufliche Kuratorin. Ihre Schwerpunkte sind u.a. Kunst als politische Praxis und Formen des Zusammenkommens als künstlerische Praxis.
Veranstaltungen im Rahmen der Ausstellung
Preview mit Ausstellungsführung
Do 1.6.2023, 19.00 Uhr
One Belt. Many Roads
Fr 2.6. bis Sa 1.7., Projektraum
Eröffnung: Do 1.6., 19 Uhr
Table Notes
Sa 17.6., 17 Uhr, Projektraum