Ukrainische Vertriebene im Jugendcoaching

Demonstration gegen den Krieg in der Ukraine

Ukrainische Vertriebene im Jugendcoaching

Ukrainische Schüler_innen bei WUK Jugendcoaching West

Derzeit besuchen ca. 4500 jugendliche Vertriebene aus der Ukraine in Wien die Schule.

Über ein Jahr nach dem Beginn des Krieges wollen wir über die ersten Erfahrungen von WUK Jugendcoaching West mit aus der Ukraine vertriebenen Jugendlichen berichten und den Herausforderungen, die sich jetzt schon abzeichnen.

Bis jetzt wurden noch nicht allzu viele Beratungen mit vertriebenen Jugendlichen aus der Ukraine durchgeführt. Die ersten Anfragen gab es im Mai und Juni 2022, damals von außerschulischen Jugendlichen. Seit September 2022 gab es mehr Beratungen, die alle an Schulen mit Ukraine-Klassen stattfanden.

Viele weitere Schulen haben den Jugendcoaches aber Beratungsbedarf für ukrainische Jugendliche für das nächste Schuljahr angekündigt. Da die meisten Schüler_innen das Schuljahr mangels Sprachkenntnissen wiederholen und damit an der Schule bleiben werden, soll vom Jugendcoaching im nächsten Jahr ein Plan mit ihnen erarbeitet werden.

Erste Anfragen im Mai und Juni 2022

Im letzten Frühjahr kam es zu zwei Anfragen von ukrainischen Jugendlichen. Die Beratungen fanden auf Englisch statt und die Mütter der Jugendlichen waren bei den Beratungen dabei.

Die Jugendlichen damals waren emotional noch sehr mit der Ukraine verbunden und hatten die Hoffnung, bald wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Es war daher schwierig für sie, sich auf das Jugendcoaching einzulassen.

Bei einer Jugendlichen fand nur ein Erstgespräch statt, da sie kurz danach in ein anderes Land weitergereist ist.

Die andere Jugendliche war 16 Jahre alt und hatte in der Ukraine die erste Klasse einer weiterführenden Schule besucht, die zu Sanitäter_innen ausbildete. Da es keine vergleichbare Schule in Österreich gibt, deren Zugangsvoraussetzungen sie erfüllen würde, wurden mit dem Jugendcoaching Alternativen entwickelt. Schließlich konnte sie mit Hilfe des Jugendcoachings einen Schulplatz in einem Schulversuch bekommen, der auf eine Tourismusschule vorbereitet und der als eine der wenigen Schulen auch Schüler_innen aufnimmt, die schon im 11. Schuljahr sind. Die Jugendliche hat sich im Frühjahr und Sommer mit Deutschkursen darauf vorbereitet und im Herbst dort begonnen.

Unterschiede im Schulsystem

Bei allen Beratungen mit Jugendlichen aus der Ukraine zeigte sich, dass es schwer war für die Jugendlichen, das österreichische System zu verstehen, da das Schulsystem in der Ukraine anders aufgebaut ist (siehe Info-Box). Konzepte wie die duale Ausbildung sind in der Ukraine fast völlig unbekannt und alle Jugendlichen, die bisher im Jugendcoaching betreut wurden, wollen auf jeden Fall weiter in die Schule gehen.

Jugendliche im schulischen Jugendcoaching

Zu Beratungen kam es bisher nur in Mittelschulen, die eigene Ukraine-Klassen hatten und es wurden Jugendliche beraten, die als außerordentliche Schüler_innen im 9. Schuljahr und in der 8. Schulstufe an der NMS waren. Bis jetzt (März 2023) hat noch keiner der Jugendliche den MIKA-D-Test  bestanden und daher werden sie auch noch nicht benotet. (Der MIKA-D-Test wurde 2019 eingeführt und ist ein verpflichtender Deutschtest, den die Jugendlichen bestehen müssen, um als ordentliche Schüler_innen am Unterricht teilnehmen zu können und Noten zu erhalten. Bis dahin erhalten sie nur Zeugnisse mit der Beurteilung „teilgenommen“.)

An vielen Mittelschulen haben sie die Möglichkeit, ein freiwilliges 10. Schuljahr bewilligt zu bekommen und die 8. Klasse zu wiederholen, um so einen österreichischen Pflichtschulabschluss zu erlangen. An anderen Schulen, deren 3. Klassen gut gefüllt sind und die daher nicht die Kapazitäten für Schüler_innen, die wiederholen, haben, wurde beim Jugendcoaching wegen Alternativen zum Erlangen des Pflichtschulabschlusses, also außerschulischen Brücken- und Pflichtschulabschlusskursen, angefragt.

Dabei erzählen die Jugendcoaches, dass viele der Jugendlichen sehr motiviert sind. Ein Jugendlicher besucht z.B. am Vormittag die NMS und am Nachmittag online sein Gymnasium in der Ukraine. Aber es braucht Zeit, um eine neue Sprache so gut zu beherrschen, dass man dem Unterricht in dieser Sprache folgen kann.

Wohin nach dem Pflichtschulabschluss?

Sollten die Jugendlichen im nächsten Schuljahr die MIKA-D-Testung erfolgreich absolvieren (was wahrscheinlich ist) und ein Zeugnis der 4. Klasse NMS mit Noten bekommen, werden viele von ihnen vor dem Problem stehen, dass ihre Noten noch nicht den geforderten Noten für höhere Schulen entsprechen.

Und selbst falls sie die geforderten Noten aufweisen, kann es sein, dass sie keinen Schulplatz bekommen, da das Alter bei sehr vielen höheren Schulen eine Rolle bei der Schulplatzvergabe spielt. Schüler_innen, die im darauffolgenden Schuljahr im 11. Schuljahr sind haben bei vielen Schulen ohnehin keine Chance mehr auf einen Schulplatz. Manche Schulen haben auch eine explizite Altersgrenze von 16 Jahren für die Anmeldung.

Der Mangel an Schulplätzen an weiterführenden Schulen in Wien, der dazu führt, dass auch viele Jugendliche, die schon lange hier leben und die Notenvorgaben für eine HTL oder Handelsschule erreichen, dort keinen Schulplatz bekommen, wird aus der Ukraine vertriebene Jugendliche also wahrscheinlich besonders schwer treffen. Da sie Zeit brauchen, um die Sprache zu erlernen, sind sie, wenn sie diese erlernt haben, zu alt, um einen Schulplatz zu bekommen und weiter am ersten Bildungsweg eine Schule zu besuchen, wie sie es möchten.

Bei einigen Schulsparten (z.B. Handelsschule, HLW) gibt es einige private Schulanbieter, bei denen man auch mit 16 noch eine Chance auf einen Schulplatz hat. Allerdings ist es fraglich, inwieweit es für die vertriebenen Eltern möglich ist, Schulgeld für ihre Kinder zu bezahlen. Für technische Schulen, die viele Jugendliche interessieren würden, gibt es überhaupt keine privaten Alternativen. Einigermaßen leistbare englischsprachige Schulangebote, in die man auch mit schlechteren Deutschkenntnissen einsteigen könnte, fehlen in Wien ebenfalls.

Das österreichische Bildungssystem bietet eine berufliche Ausbildung durch den Besuch einer berufsbildenden Schule oder durch eine Lehrausbildung. Eine Lehrausbildung wird allerdings von vielen ukrainischen Schüler_innen abgelehnt und wäre aufgrund der Sprachkenntnisse für die meisten auch eine massive Überforderung. Außerdem würden sie dann eine Ausbildung machen, die im Falle einer Rückkehr in die Ukraine kein Pendant hat.

Ungenützte Chance

Betrachtet man die einzelnen Jugendlichen, wird klar, wieviel Potential hier verloren geht: Ein Jugendcoach hat z.B. vier Jugendliche im 9. Schuljahr beraten. Von ihnen hätte eine Jugendliche Interesse an einer Ausbildung an einer Tourismus-Schule, zwei interessieren sich für den IT-Bereich und einer für eine Ausbildung im naturwissenschaftlichen Bereich, z.B. als Chemiker, alles Branchen, die in Österreich als Mangelberufe gelten. Da alle diese Jugendliche wegen der negativen MIKA-D-Testung noch einen Status als außerordentliche Schüler_innen haben, haben sie aber keine Chance, z.B. in eine Übergangsstufe für ein Gymnasium oder eine HTL weiter zu gehen, da dort bestimmte Noten verlangt werden.

Viele der Schüler_innen waren in ihrem Heimatland gute Schüler_innen und hätten mit etwas Unterstützung gute Chancen, eine weiterführende Schule zu schaffen und könnten danach entweder in der Ukraine zum Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg beitragen oder wären in Österreich gefragte Fachkräfte. Es wäre schade für die Jugendlichen, wenn diese Chance aufgrund der strukturellen Probleme vertan wird.

Info-Box

Das Ausbildungssystem in der Ukraine

Die Schulbildung in der Ukraine beginnt mit 6 Jahren mit der 4jährigen Grundschule, auf die die 5jährige Basisschule folgt. Diese Schulen werden von allen Schüler_innen besucht, erst danach spalten sich die Schulwege auf. Danach kann man entweder eine Kurzausbildung in einem handwerklichen Beruf machen (1-6 Monate), eine zweijährige allgemeine Oberschule besuchen, die zur Hochschulreife führt (d.h., Jugendliche in der Ukraine können mit 17 maturieren) oder eine der zahlreichen spezialisierten Berufsschulen, die 3-4 Jahre dauern und ebenfalls mit der Hochschulreife enden.

Die Berufsausbildung erfolgt in der Ukraine fast ausschließlich in Berufsschulen. Erst 2015 wurde die duale Ausbildung als weitere Form der Berufsausbildung eingeführt und ist noch wenig etabliert. Im Jahr 2019 wurden weniger als 4% der Auszubildenden so ausgebildet.

Quellen:

Text: Madlen Abdallah, WUK Jugendcoaching West
Foto: Tetiana SHYSHKINA auf Unsplash
 

NEBA ist eine Initiative des Sozialministeriumservice.

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