Überlebensgrundlage Live
Während der Corona-Krise hat sich das ganze Kulturschaffen und -konsumieren ins Internet verlagert. Doch zeigt dieser erzwungene Online-Turn nur, woran es wirklich fehlt: Geld und Wertschätzung für die Kultur.
Ich bin ja keine Zukunftsforscherin, spiele aber trotzdem manchmal mit dem Gedanken, dass irgendwann alles im Digitalen möglich sein könnte. Dass ich es spüren werde, wenn mir beim virtuellen Konzertbesuch die ekstatisch tanzende Person vor mir immer unangenehm auf die Zehen hüpft, dass die Schlange beim Bierholen unerträglich lange und das Schlagzeug zu laut ist. Und dass es trotzdem oder gerade deswegen das beste Konzert aller Zeiten ist. Aber noch ist diese Vorstellung, im wahrsten Sinne des Wortes, Zukunftsmusik.
Das Vermissen der Rituale
Es geht aber nicht nur ums Geld, es geht um die Inhalte, das Gezeigte. Viele Kunstformen leben von einer Interaktion, von einer Partizipation, die sich momentan nicht via Stream abbilden lässt. Ein gutes Beispiel ist das gerade sehr populäre immersive Theater, das ironischerweise wiederum Anleihen aus der Virtual Reality nimmt. Wo wir auch beim Publikum wären. Es macht nicht nur etwas mit Performer_innen, wenn sie in leeren Sälen auftreten, sondern auch mit dem Publikum. Neben den offensichtlichen Unterschieden, die ich vorher schon angerissen habe, ist es auch interessant, über die Codes nachzudenken, die mit realen Orten verbunden sind. Wir können uns jetzt total verkatert eine Oper im Stream reinziehen, während wir in einem versifften Pyjama Nachos im Bett essen. Im „echten Leben“ könnten wir ein „Haus der Hochkultur“ so nicht betreten. Dieses Wegfallen von Hierarchien, diese neue Zugänglichkeit ist einerseits absolut positiv und interessant, andererseits vermissen gerade viele Menschen genau diese Codes, die Regeln, die Rituale, die mit dem Besuch unterschiedlicher Stätten verbunden sind.
Um künstlerische Risiken eingehen zu können, braucht es on- wie offline finanzielle Sicherheiten für Kulturschaffende und jene Orte (Beisl wie Website), die ihnen eine Bühne bieten. Das Publikum muss lernen, dass Kultur nicht gratis ist, egal, wo sie sich abspielt.
Amira Ben Saoud (*1989) ist Kulturredakteurin bei Der Standard. Sie war Chefredakteurin des Popkulturmagazins The Gap und Programmverantwortliche des feministischen RRRIOT Festivals.