Turanium
DER FÜRSTPRIMAS BRICHT IN TRÄNEN AUS
Im kaiserlichen Ofen brät man den Kopf des Sultans, damit er schön knusprig und europäisch wird. Die orientalischen Gesichtszüge ließen sich beim Absengen nicht ganz entfernen. Sobald er gar ist, heben ihn bemuskelte Arme aus dem Herd, Zungen schnalzen, alle wollen in seinen kohlenschwarzen Harem greifen. Dem Kopf entströmt Manneskraft, und Jünglinge drängen sich wie gebannt um ihn, während ein Marsch sich zu den inneren Gemächern des Palastes in Bewegung setzt, wo der Fürstprimas schon wie auf heißen Kohlen sitzt. Hungrig ist der Ungar, gebt ihm zu essen! – ruft der Geheimrat, der Osmane soll getilgt werden von der Erde, die ihn so reich ins Kraut schießen ließ. Silbernes Besteck wird aufgedeckt, aus der verhängten Nische tönt eine Harfe, und dann ist da noch ein Schwan, der auf einem künstlichen See herumgeführt wird von zwei Knappen, die jetzt noch verliebt sind, die sich aber morgen schon in einem Vogelhaus voller Schwanenfedern erwürgen werden. Der Fürstprimas wirft einen Blick auf den Kopf, und auf einen Schlag schmelzen seine inneren Organe. Das edle Haupt duftet wie ein Vögelchen, das mit der Vogelmutter im Innern gebraten wurde. Ferenc denkt an seine eigene Mutter und an Züchtigungen mit Ruten. Vor Glück bricht ihm der Schweiß aus, denn er hätte nie zu hoffen gewagt, hier und heute auf seinen besten Freund zu treffen. Am liebsten würde er sofort eindringen in diese MannesTiefe, um die Schädelkalotte, angefüllt mit dem Nebel Konstantinopels, auszulecken. Ferenc ist noch nie dort gewesen, trotzdem fühlt er deutlich, dass der Sultan schon immer wie ein Bruder für ihn war und nur deshalb in einer so knusprigen Aufmachung vor ihm steht, weil die ungarischen Männer so einsam sind.
Übersetzung von Orsolya Kalász und Matthias Kniep
Márió Z. Nemes liest „A hercegprímás elsírja magát” [Der Fürstprimas bricht in Tränen aus], 2020
REGNUM MARIANUM
„Unsere Zukunft ist Verwelken, Verhärmen, Ausbrennen. Wir sind eine lange Reihe von Todgeweihten hier auf Erden, und schauen der Hinrichtung unserer Vorfahren zu.“ Imre Madách
Der Mars ist das vorrangige Ziel des Hungarofuturismus, denn die natürlichen Ressourcen des Planeten, vor allem das Eisenoxyd reiche rote Sand hat schon früh das Interesse des revolutionären Komitees geweckt. Lajos Kossuth und die durch Béla Kun geführten Hungarokommunisten sind schon öfter in der Frage aneinander geraten, ob wir in einem gepanzerten Zug versuchen sollten, auf der Oberfläche des Planeten zu landen, oder doch mit dem traditionellen Mutterschiff in Form des Zauberhirsches, das uns bereits während der Abenteuer auf der Reise zum Sirius gute Dienste geleistet hat? Letztendlich einigten sich die beiden revolutionären Flügel auf einen Kompromiss und die Bewegung erreichte in schwarzen aus dunkler Materie geformten Pyramiden den Planeten.
Welche strategischen und ideologischen Gründe machten diesen Schritt notwendig? Der Verfall des Volkes Maria vor Ort und die ständigen Attacken der imperialistischen Mächte verursachten eine besonders heikle politische Situation. Lajos Kossuth konnte nicht länger den Kampf mit den insektoiden Skatophilikern, die unserer Reihen infiltrierten, aufnehmen, denn die Führungsriege der Partei wurde komplett durch Hybride ausgetauscht. Auch Orban konnten wir nicht mehr vertrauen, denn anstelle seiner Zunge ragen schwarze penisähnliche Kauwerkzeuge in die nationale Nacht. Als die Skatophiliker gegen den revolutionären Rat putschten, hätten sie beinahe auch Lajos Kossuth befruchtet, aber mit übermenschlicher Kraft gelang es unserem Führer in letzter Sekunde sich aus der Menge der schleimigen Christen herauszureißen. Zum Glück standen uns noch die Mittel des sowjet-ungarischen Raumfahrtprogramms zur Verfügung und mit den übriggebliebenen rassenreinen Kameraden gelang es uns, die schwarzen Pyramiden zu starten.
Außenall- und Innenpolitik, darauf schwören wir, während wir als negative Kathedrale auf den Planeten der Revolution, die das ungarische DNS erlösen wird, zustürzen.
Kalocsa-Krater! Eger-Krater! Kálmán-Tódor-Krater!
Vergessenen Brüder und fossile Posthungarianer!
Wir sind gleich da!
Auch wenn es die imperialistischen Mächte, die seit Jahrtausenden den Körper unseres Volkes verstümmeln, gelungen ist, uns von der Erde zu vertreiben, ist das Land Marias kein geografischer Begriff. Das Land Marias ist unserer Rasse Code, den wir zum Programmieren der Raumschiffe benutzen. Die schwarzen Pyramiden werden von dem uralten Pathos unseres Herzens angetrieben, und diese biotechnologische Katharsis wird auch die marsianischen Wüsten befruchten. Das Land Marias konnten sich die Insekten Orbans nicht aneignen, denn in den Hybriden wird der reinperlende Code entstellt. Deswegen können sie den Bewegungen der Sternpfade, den Hyperstraden des Zauberhirsches nicht folgen. Die Rasse hat mit der Nation gebrochen.
Der Mars wird Teil des ungarischen Kosmos‘! - verkündet Lajos Kossuth von der Kapitänsbrücke des Mutterschiffes. Wir gründen ein neues Budapest auf dem Olympos Monson, denn der Schoß alten sündigen Schlampe wurde von den dunklen reaktionären Kräften geflutet. In den wunderschönen Tempeltürmen des Neubudapest ertönen die Siegeshymnen: Regnum Marianum! Aus den Samen der traurigen Husaren erbautes Riesenbakterium: Regnum Marianum. Die Eiernacht der Greifvögel: Regum Marianum. Die Sargkathedrale meiner lieben Mutter: Regnum Marianum! Vergessene Brüder und Schwestern und fossile Posthungarianer.
Wir sind gleich da!
Übersetzung von Orsolya Kalász
Márió Z. Nemes liest „Regnum Marianum”, 2020
DIE ERGREIFUNG UND VERKLEINERUNG DES BERÜCHTIGTEN BABYFACE
Es gibt Augenblicke, egal wie geschickt du es anstellst,
da wirst du selbst zu einer Mumie. Eigene Leinenbinden
besitze ich zwar nicht, trotzdem bedecken sie mich, und
ich huste schön artig meine Organe hoch. Kein Grund
zur Sorge, meint unser Dorfarzt, diese Symptome sind
in der Pubertät ganz normal, wahrscheinlich ist noch
heftiger Harndrang zu erwarten, dagegen hilft nur das
A-Loch eines Ochsen. Meine Mutter stimmt ihm zu,
als Bezahlung schaufelt sie Schweinesülze in die Taschen
des lieben Doktors und wiegt mich dann in den Schlaf.
Ich bin schon alt, aber dich werde ich, wenn es sein muss,
erwürgen, sagt sie, daraufhin huste ich ihr Plasma
auf die Brust und bedanke mich, dass sie mich
zu einem guten Husaren erzogen hat.
Meine Aufgabe ist es, den unter dem Namen
Feri Babyface bekannten Wegelagerer zu fangen,
ihn an Körper und Seele zu brechen, der Richter hat es mir
aufgetragen, der aber ist zu fett, und in ihm wandert viel zu
viel Wasser hin und her. Gleichzeitig habe ich das Vertrauen
der guten Hirten, in deren Herden der Wegelagerer gewildert,
in deren Behausungen er gewühlt hat. Ich durchkämme
die Gegend, bin eins mit meinem Pferd, das aufschnaubt,
wenn ich am Wegesrand mein Wasser abschlage und die
Sonne begrüße, die als Blume mit windenden Sprossen
an meinem Glied emporklettert.
Verlegen stehe ich da, nehme den beißenden Gestank
des Verkleinerungsgases wahr: Ich bin hier, um den Koffer
zu holen. Im blutbenetzten Gras strampelt ein halbierter
Kentaur mit den behuften Beinen, währenddessen robbt
sein Oberkörper zu mir und bittet um Feuer. Eine letzte
Zigarette möchte er noch rauchen, bevor er sich endgültig
von seiner tierischen Hälfte trennt. Ich hatte immer Schwierigkeiten,
in den Sattel zu kommen, sagt er und pafft leise weiter. Den Koffer
finde ich auf dem Altarstein, hastig greife ich danach und will
so schnell wie möglich nach Hause laufen, da höre ich dieses
hinterhältige Geraschel. Ich öffne den Koffer und erblicke
das Babyface von Feri Babyface, ein wenig geschrumpft.
Auch etwas verdorrt, aber sein Mund bewegt sich noch.
Er bittet mich, schwör beim Leben deiner Mutter,
dass es kein Morphium ist, und ich schwöre, denn
meine Mutter ist längst tot, und das Morphium
wird erst morgen geliefert.
Übersetzung von Orsolya Kalász und Matthias Kniep
Márió Z. Nemes liest „A hírhedt babaarcú elfogása és kicsinyítése” [Die Ergreifung und Verkleinerung des berüchtigten Babyface], 2020
FRANZÖSISCHES ABENDESSEN IM HOTEL GREIF
Gábor Batthyány und Ilona Batthyány fahren
mit der Kutsche in die Stadt, denn im Hotel
Greif wird dieses Jahr französisch gekocht.
Die Gerüche der Nacht sind schwer,
fast drücken sie die Kutsche nieder,
aber von Weitem schon hört man den Tanzmeister,
wie er auf seinen alten Instrumenten spielt.
Ich bin ein Küchengehilfe, tunke meine Finger
in den Leichenschmaus, wir servieren keine Verwandten,
aber die Trauer ist gegeben. Ich müsste den Tau
als Aufputschmittel kennen, das lehrt mich der Meister,
aus der Zunft sind nur wir zwei übrig geblieben.
Die Adelsfamilie tritt ein, ich sehe nur Opal, keine Menschen,
erblinde, während ich bediene, und das Fagott
jagt Schweine im Tanzsaal.
Ich habe keine Freunde, es baumeln nur
die abgezogenen Häute dreier Männer in meiner
Dachkammer, wenn der mongoloide Wind hineinbläst.
Laut meinem Meister ist meine Suppe durchgeknallt,
mein Truthahn aber glorreich. Ilona Batthyány reißt ihren
Mund auf, und ich spüre sogar blind, wie die opalen Kegel
ihrer Zähne in französisches Gemüsepüree eintauchen,
während ihr Mann die drei gehäuteten Juden verschlingt.
Wenn ich einschlafe, gibt es niemanden, der über mir steht,
kein wachsames Rückgrat, denn die Häute
zitttern wie Vogelmembrane. (Das Hotel Greif
ist landesweit für seine gepressten Vögel berühmt.)
Die edle Kutsche verschwindet klingelnd
im Nabel der Landschaft, doch im Rokoko
klafft als nässende Wunde das Loch, wo der
Strudelwurm seinen Partner aufgefressen hat.
Übersetzung von Orsolya Kalász und Monika Rinck
Márió Z. Nemes liest „Francia vacsora a Griff hotelban” [Französiches Abendessen im Hotel Greif], 2020
GÄRENDES VOLKSTUM
Der Bovist ist der Riese der Wiese, ihm huldigt das Ferkel mit den weggeschnittenen Lippen und die pollenbewehrte Garde. Die neuen Günstlinge des Hofes sind komatöse Pubertierende, die die Genossenschaft auf diese leicht überdrehte Wiese transportiert hat. Unter ihnen sind nach Pfingstrosen duftende Jungfern und Mongoloidioten, sie eigneten sich nicht für den Nationalgedanken, deswegen überließ die Genossenschaft ihren Körper dem Pilzkönig. Sie liegen schön geordnet in einer Reihe im duftenden Humus, auf ihren Gesichtern die Häutchen von Sporen anstelle von Tüchern, Häutchen, die langsam im Rhythmus des Komas erzittern. Auf ihren Brüsten blühen halluzinogene Bastarde, man darf sich nicht heranwagen, denn die Stille des Kompostierens darf nur von der Röte des Traumes unterbrochen werden. Wie auch anders, wenn die Seele der Jungfer in Rot schwimmt, eingetaucht in den Moment nach dem Blutverlust, als ihre Mutter Zwerge durch den Fleischwolf jagte, mit der Begründung, dass es sich so anfühle, Soldaten zu gebären. Aber damit ist Schluss, nun ist ihr Ehemann der Bovist, und ihr aufgerissener Anus mit Sporen gemustert. Die pubertierenden Idioten sind nicht mehr zu einer Gruppenvergewaltigung fähig, auch wenn in der Luft noch die Melodien des Anwerbetanzes Verbunkos umherfliegen. Weil sich die Pubertierenden gegenseitig die Wurzel ablecken, mischt sich in die pflanzliche Trauer eine klebrige Begattung, während auf der Oberfläche ihrer Körper – wie auf einem verrotteten Gesicht – der König der Wiese lächelt.
Übersetzung von Orsolya Kalász und Monika Rinck
Márió Z. Nemes liest „Erjedő népiség” [Gärendes Volkstum], 2020
Biographie:
Márió Z. Nemes (*1982 in Ajka, lebt in Budapest) ist Schriftsteller, Kritiker und unterrichtet Ästhetik und Kunsttheorie an der Eötvös Lóránd Universität in Budapest. In seinen Texten und Gedichten setzt er plastische Wortbilder und humorvolle Visionen ein, um Konzepten des Posthumanismus, des Gespenstischen und der Utopien hinter historischen Erzählungen und nationalen Mythen nachzugehen. Er ist Mitbegründer und Herausgeber der Fanzine-Reihe Technologie und das Unheimliche. Zusammen mit seinem Kollegen Zsolt Miklósvölgyi verfasste er 2017 das Hungarofuturistische Manifest, das sich gegen die Vereinnahmung nationaler und historischer Mythen durch die nationalistische Ideologie richtet und Propositionen für eine neue, experimentelle Kosmologie und „identitätspoetische Imagination“ erarbeitet.