The People We Choose
Gleich in den ersten Augenblicken von Andrew Haighs Film „All of Us Strangers“ (Trailer↗) wird klar: Dieser Mensch ist einsam. Adam, ein Drehbuchautor Mitte 40, der sich sein Leben lang wie ein Außenseiter gefühlt hat, flüchtet sich in Musikvideos und schafft es nicht, Nähe zuzulassen. Die Erfahrung, in den Achtzigern als schwuler Junge aufzuwachsen, verfolgt ihn ebenso wie die ständige Frage danach, ob seine verstorbenen Eltern ihn heute akzeptieren würden.
Queer Loneliness
Als Adam in seinem modern-anonymen Apartmentkomplex auf Harry trifft, eröffnet sich ihm eine Welt der Projektionen, in der er vor seinen verstorbenen Eltern zu seiner Sexualität steht und sich auf eine romantische Begegnung mit dem etwa 20 Jahre jüngeren Harry einlässt. Dieser scheint auf den ersten Blick selbstbewusst und mit sich im Reinen – ein Gefühl der Isolation plagt ihn trotzdem. Das liegt nicht an mangelnder Akzeptanz durch seine Familie, sondern daran, dass ein queeres Leben einfach nicht in die Vorlage passt, die die Gesellschaft vorsieht: Während seine Geschwister klassische Lebensentwürfe mit Heirat und Kindern verfolgen, ist Harry unsicher, was die Zukunft für ihn überhaupt bereithalten könnte.
Die beiden Szenarien mögen Jahrzehnte auseinanderliegen, doch sie sind zwei Seiten derselben Medaille: Queere Einsamkeit. Adam hat das Gefühl von othering* nie überwunden und ist innerlich zerrissen zwischen der Angst vor Intimität – und der Sehnsucht danach. Harry, der sich zunächst als Teil einer neuen, selbstbewussteren Generation von Queers durch die Welt zu bewegen scheint, fragt sich, was Familie und Zugehörigkeit für ihn bedeuten kann. Daraus resultiert ein Gefühl von Einsamkeit, vor dem er sich nicht zu retten weiß.
* Der Begriff „othering“ stammt von dem englischen Begriff „other“ oder „otherness“ ab, was so viel wie „anders“ oder „andersartig“ bedeutet. Er beschreibt die Abgrenzung einer einzelnen Person oder Gruppe („Wir“) von einer anderen Gruppe („die Anderen“). Dabei wird die nicht-eigene Gruppe als anders, fremd und von der Norm abweichend kategorisiert. Meist findet „othering“ auf der Basis eines Machtgefälles statt. Queere Menschen erfahren „othering“ durch heteronormative Strukturen in zahlreichen Kontexten – von der eigenen Familie bis zur Gesellschaft im Allgemeinen.
Wenn alles möglich ist
Hinter Harrys Verzweiflung verbirgt sich der Wunsch nach einer Perspektive: Wie kann ein queeres Leben heute aussehen? Vor allem die traditionelle Kernfamilie, mindestens aber eine langfristige romantische Beziehung gilt noch immer als Ideal für ein erfülltes, glückliches Leben. Lebensentwürfe abseits dieser heteronormativen Pfade erhalten in unserer Gesellschaft wenig Raum. Alternative Konzepte von chosen family, also Freundschaften und Communities, die eine familienähnliche Sicherheit darstellen, werden in öffentlichen Debatten bis heute ausgeblendet. Dabei formulierte die US-amerikanische Anthropologin Kath Weston den Begriff bereits 1991: In ihrem Buch „Families We Choose“ beschrieb Weston damals die zentrale Rolle, die enge Freundschaften im Leben von Menschen spielen, die aufgrund ihrer Sexualität oft Distanz oder Ablehnung durch ihre Herkunftsfamilie erfahren. Selbstermächtigung statt unfreiwilliger Isolation: Menschen sollten sich selbst aussuchen können, wer an ihrer Seite steht.
Gerade die queere Community birgt das Potenzial, das Zusammenleben in einer romantischen Zweierbeziehung nicht unbedingt als default state zu denken, glaubt auch Dramaturgin und Autorin Lisa Kärcher. Sie ist gemeinsam mit Performer Alexandru Cosarca an der Entwicklung der Performance LONELY FOR YOU! – Die Super Show von Regisseurin Natalie Assmann beteiligt, die am 02.04.2024 im WUK Premiere feiert. Darin stellt Showmaster Dru (gespielt von Alexandru Cosarca) sich und dem Publikum die Frage: Wie wollen wir eigentlich leben?
„Are you dating anyone?“
Die Frage nach dem Beziehungsstatus wird unter Freund*innen sowie bei den Eltern oft so selbstverständlich gestellt wie die Frage nach dem Job oder dem letzten Urlaub. Romantische Beziehungen genießen einen gesellschaftlichen Status, der anderen Beziehungen wie etwa Freundschaften nicht zugesprochen wird. Der leicht besorgte Blick, der oft einsetzt, wenn es da gerade niemanden gibt, verrät: Eine feste Beziehung gilt als Erfolg, keine Beziehung zu führen wird dagegen automatisch mit Einsamkeit gleichgesetzt. Und Einsamkeit ist noch immer von einem scheinbar unüberwindbaren Stigma umgeben.
Wie lässt sich diese Tabuisierung durchbrechen? Vielleicht müssen wir zunächst neu definieren, was Einsamkeit eigentlich bedeutet. Für Alexandru Cosarca steht eine romantische Beziehung zum Beispiel nicht an erster Stelle, verrät er im Gespräch über die Arbeit an LONELY FOR YOU!.Einsam fühlt er sich deshalb noch lange nicht. Er war schon immer ein Glückskind, was Freundschaften betrifft, hat ein großes Netzwerk und fühlt sich sehr geliebt und geborgen in all seinen Beziehungen, erzählt er. Wäre er in einer Beziehung, würde sie mit seinen Freundschaften auf einer Stufe stehen. Dass auch andere Verbindungen ein intensives Gefühl von Zugehörigkeit bieten können, ist für ihn selbstverständlich.
Einsamkeit als Ressource
Eine Community, die gelernt hat, solidarische Netzwerke zu bilden, hat eben genau dieses Potenzial: Modelle zu entwickeln, in denen neue Formen des Zusammenlebens entstehen können, in denen abseits des Ideals der romantischen Partner*innenschaft auch andere Beziehungen gepflegt und wertgeschätzt werden.
Das Alleinsein von seinem Stigma zu befreien ist dabei eine Voraussetzung, um gute Bindungen überhaupt erst aufbauen zu können. Dass Einsamkeit so oft mit Gefühlen von Scham oder Schuld verknüpft ist, kann dazu führen, dass wir allein deshalb Beziehungen eingehen: nicht nur aus Angst vor der Einsamkeit, sondern schlicht aus Angst vor dem gesellschaftlichen Urteil. Dabei ist die Frage danach, ob wir uns vor dem Alleinsein fürchten und was Einsamkeit überhaupt für uns bedeutet, sehr individuell. Darauf kann kein Konzept pauschal eine Antwort geben, betont Lisa Kärcher. Würden wir dies anerkennen, könnte man beginnen, Einsamkeit anstatt eines Mangels eher als Ressource zu begreifen.
Es braucht neue Wege, dem Thema Einsamkeit mit mehr Optimismus zu begegnen. Genau darum geht es in LONELY FOR YOU!: Community zu denken als eine Möglichkeit der Begegnung und des Austauschs von Erfahrungen. Darum, Vorschläge zu machen, wie man Leute ansprechen und sich verbinden kann. Mit Humor und ohne Berührungsängste, sagt Alexandru: „Im schlimmsten Fall gebe ich einfach jedem Gast meine Telefonnummer.“
Marit Blossey lebt und arbeitet in Berlin als freie Journalistin und Fotografin. Sie schreibt und recherchiert zu queeren Themen, mentaler Gesundheit, Gegenwartsliteratur, Musik und Popkultur.
Plattform gegen Einsamkeit
Die Plattform gegen Einsamkeit ist eine bundesweite Initiative, die die zahlreichen Angebote und Wissensbestände zum zukunftsrelevanten Thema Einsamkeit und soziale Isolation zusammenführt. Im Jahr 2021 durch den gemeinnützigen Verein Social City Wien mit Unterstützung des Sozialministeriums ins Leben gerufen, bietet die Plattform unter www.plattform-gegen-einsamkeit.at eine Vielzahl von Informationen und Ressourcen zur Bekämpfung von Einsamkeit. Die Datenbank umfasst bestehende Hilfsangebote in allen Bundesländern und 13 Kategorien, sowie ein wachsendes Netzwerk von Expert*innen und (ehemals) Betroffenen. Zudem ermöglicht sie einen umfassenden Überblick über Engagementmöglichkeiten und bietet Wissenswertes zum Thema.
Seit 2023 werden gezielte Kampagnen- und Medienarbeit sowie eigene Begegnungsformate in Kooperationen mit lokalen Organisationen umgesetzt, wie beispielsweise Spaziergänge und Begegnungscafés. Diese bieten eine ungezwungene Atmosphäre für Menschen jeden Alters, um sich über Alltagsthemen auszutauschen, Geschichten zu teilen, und Kontakte zu knüpfen. Die Angebote fördern soziale Vernetzung und dienen als Basis für zukünftige Aktivitäten. Die Plattform gegen Einsamkeit plant kontinuierlich neue Maßnahmen in Kooperation mit bestehenden Organisationen, um das soziale Miteinander zu fördern, Unterstützungsangebote sichtbar zu machen und aktiv gegen Einsamkeit vorzugehen.
Was heißt eigentlich „offen“? Ist Offenheit ein Gut?
Wir wollen offen sein, Offenheit zum Thema machen, infrage stellen, umsetzen - barrierefrei, niederschwellig, vermittelnd.
Wer kann unter welchen Bedingungen an Kunst und Kultur teilhaben? Und wer bleibt aufgrund von strukturellen Schwellen außen vor? Was ist notwendig, um eine möglichst breite Teilhabe zu gewährleisten?