TERRAFORMING DES POST-UNGARTUMS
Anlässlich des Online-Projekts Leaning on the Past, Working for the Future in der Kunsthalle Exnergasse in Wien führt der folgende Aufsatz aus, wie die Visionen des 2017 veröffentlichten Hungarofuturistischen Manifests mit politischen und ästhetischen Strategien zur Konditionierung des kulturellen Gedächtnisses umgehen.[1] Geprägt durch eine pan-periphere Wahrnehmung äußert sich der Nationalismus als eine nach innen gerichtete Haltung, die sich durch Negation, mit einem übermächtigen „Anderen“ als gemeinsamen Nenner definiert. Im Gegensatz dazu schlägt der Hungarofuturismus als mythische Fiktion und ästhetische Strategie vor, das kulturelle und historische Konstrukt sowohl räumlich als auch zeitlich zu transformieren.
Im Jahr 2010, nach der zweiten Wiederwahl von Viktor Orbán und der FIDESZ-Partei wurde im Namen eines neuen autoritären Stils – oder in Orbáns Worten „illiberalen“ Staates – umgehend ein massiver Angriff gegen die freie Presse, die Wissenschaft, Nicht-Regierungsorganisationen, zivile Initiativen und kulturelle Institutionen unternommen. Ein Teil dieser orchestrierten Offensive bestand darin, historische, politische und kulturelle Konsense neu zu schreiben, um ein neues, vollständig von FIDESZ dominiertes gesellschaftliches und ästhetisches Narrativ zu etablieren. Diese Tendenzen waren starke Impulsgeber, die Hungarofuturistische Bewegung ins Leben zu rufen und 2017 das Hungarofuturistische Manifest zu verkünden.[2]
Anstatt sich vergebens den paranoiden Gespenstern zu widersetzen, die unsere tief in Europa verwurzelte Existenz heimsuchen, nimmt das Hungarofuturistische Manifest eine kreative Umleitung von Herkunftsgeschichten vor, die unsere Hoffnung auf zukünftige Vergangenheiten wiederherstellen können. Die Umprogrammierung der „Nationen-Maschine“ schafft kein organisches Wissen und keine Narrative, sondern Anachronismen, phantomartige Ereignisse, in deren inkompatiblen Vielfalt an Elementen Geschichte und Kosmos bis hin zur „Überidentifikation“ miteinander verschmelzen.
Überidentifikation ist die taktische Übernahme und Übertreibung herrschender Codes. Slavoj Žižek hat diese spezielle kritische Strategie in einem Aufsatz über die slowenische Band Laibach und das Kunstkollektiv IRWIN mit dem Titel „Why Are Laibach and Neue Slowenische Kunst Not Fascists?“ [3] analysiert. Ihre politische Ästhetik nimmt in ihrer aggressiven und inkonsequenten Bastardierung Stalinismus, Nationalsozialismus und die Blut-und-Boden-Ideologie durch die Mangel, wobei auch liberale/linke Kritik derart verzerrt wird, dass am Ende sämtliche Ideologien des 20. Jahrhunderts zu ihren eigenen ironisch ritualisierten Kopien geraten. Überidentifikation lüftet das Geheimnis totalitärer Systeme; gefangen in seiner eigenen Rhetorik kann sich das Über-Ich der Macht nicht länger verstecken. Die Herrschaft über die Herrschaft sozusagen – worin die Sonnen- und Schattenseiten der Ideologien als zwei Seiten derselben Münze in einem infernalischen Pakt der Parasiten zum Vorschein kommen.[4]
[1] Eine frühere Version dieses Textes wurde auf der London Conference in Critical Thought 2019, Centre for Invention and Social Process at Goldsmiths, University of London vorgestellt.
[2] Zsolt Miklósvölgyi und Márió Z. Nemes, Hungarofuturist Manifesto, 2017, www.technologieunddasunheimliche.com/hungarofuturism.html.
[3] Slavoj Žižek, „Why Are Laibach and Neue Slowenische Kunst Not Fascists?“, in: ders., The Universal Exception: Selected Writings, Band II, London: Continuum, 2006, S. 63–66.
[4] Michel Serres, Der Parasit, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1987.
In diesem parasitären Sinne sind auch die künstlerischen Ausdrucksformen der klassischen Avantgarde-Kunst (als „Bewegung“, „Manifest“, „Collage“ usw.) zu Objekten der Überidentifikation geworden. Im Falle des Hungarofuturismus wird häufig auch der Begriff einer Bewegung oder eines Kollektivs selbst über geläufige Repräsentationen einer Nationalstaatlichkeit vorgeführt, während gleichzeitig fiktive Strategien in Form von Hashtags, Memes und Facebook-Gruppen adaptiert werden. Sie fordern das populistische Repertoire, geschlechtsspezifische Normen und traditionelle Denkweisen heraus, um die Vergangenheit in die Zukunft zu integrieren: sie „überidentifizieren“ sich mit ihnen und ermöglichen eine zynische Distanz.
Eines der Hauptbeispiele für hungarofuturistische „Überidentifikation“ wäre die Übernahme und Aneignung des in den esoterischen Subkulturen der extremen Rechten Ungarns weit verbreiteten Pseudo-Mythos: Gemäß der gründlich konstruierten und enthusiastisch geteilten Überzeugung jener okkulten und heidnisch-reaktionären Fraktionen sind die Ungar_innen zwischen dem 8. und 5. Jahrhundert v. Chr. nicht mit Nomadenstämmen aus dem Gebiet zwischen dem Ural und der Wolga in das Karpatenbecken gekommen, wie es die tradierte Geschichtsschreibung behauptet. Vielmehr soll das Volk als sogenannte „Auserwählte“ aus dem Weltall stammen, nämlich aus dem Sirius-Sternensystem. Angesichts dieser überraschend populären Pseudo-Herkunftsgeschichte begannen einige hungarofuturistische Autor_innen und Künstler_innen, deren Hauptmotive den eigenen politischen und poetischen Zwecken der Bewegung einzuverleiben. Eine solche Geste der Aneignung findet sich im folgenden Zitat aus dem ersten Absatz des Hungarofuturistischen Manifests, das auf die Kosmologie des Hungarofuturismus eingeht: „Statt eines konservativen Himmels fordern wir ein ungarisches Weltall! Dies ist kein Eskapismus, sondern eine neue ungarische Besatzung, die das vorherige Land nicht außer Kraft setzt, sondern es neu erfindet und mit anderen Narrativen befüllt. Der ungarische Weltraum ist hier nicht einfach ein weiteres Territorium, er wird zur Repräsentation eines geophilosophischen Konzepts, eine Sehnsucht nach einem anderen Ort.“[5]
[5] Miklósvölgyi und Nemes, Hungarofuturist Manifesto. Eigene Übersetzung für diese Publikation.
Ähnlich wie beim Afrofuturismus, der neben anderen ethnofuturistischen Bewegungen eine fruchtbare Inspirationsquelle für den Hungarofuturismus darstellt, ist dies ein Experiment in poetischer Vorstellungskraft, das auf einer radikal ironischen Übertreibung der Minoritätsidentität beruht.[6] Auf diesem Weg versucht die Hungarofuturistische Bewegung, dem ethnischen, biopolitischen und rassistischen Essentialismus des Ungartums, wie er von der rechtsextremen Regierung von Viktor Orbán gefördert wird, etwas entgegenzusetzen: Der Hungarofuturismus bietet ein alternatives Konzept zu dem, was es bedeutet, Ungarisch zu sein, nämlich die Entdeckung des Post-Ungartums. „Der Schlüssel zu einer hungarofuturistischen Transformation in das Post-Ungartum ist die Metamorphose. Als Volk des Sirius sind wir einst angekommen und so kehren wir wieder zurück! Jetzt und für alle Ewigkeit!“[7]
Die Methode des Post-Ungartums ist angewandter Anachronismus. „Das ‚Post-Ungarische’ ist keineswegs etwas Neues. Das ‚Post-Ungarische’ ist radikal un-neu. Das ‚Post-Ungarische’ funktioniert über die Vermittlung des Vergangenen, geht über bloße Rekonstruktion hinaus (...) und vergisst dabei nie, dass sich dieses ästhetische Konstrukt alter, sogar archaischer Elemente bedient. Dies ist die Geschichte der Neudefinitionen des Selbst. Es geht nicht so sehr um eine Sache oder das Merkmal einer Sache, sondern um eine Handlung oder die Logik einer bestimmten Art von Handlung.“ [8] Über bloßen Eskapismus hinausgehend, ist der Hungarofuturismus keine Ablehnung der kulturellen Landschaft, sondern eine Umgestaltung der ungarischen Kultur, indem aus den Versatzstücken des Alten eine Geschichte gebaut wird, die immer schon eine konstruierte war. Diese spezifische Konstellation unterscheidet den Hungarofuturismus von früheren Erscheinungsformen des Futurismus. Im Unterschied zu diesem zeichnet sich der postungarische Standpunkt mit seiner militant modernistischen Betonung des radikal Neuen durch eine post-ironische Affirmation seines eigenen „nicht-neuen“ Zustands aus. Dies provoziert zwangsläufig eine ironische Beziehung zur vermeintlichen, metaphysisch begründeten „Neuheit“ der alten Avantgarde. Anstatt das Alte auszulöschen und in irgendeine Zukunftsutopie vorzupreschen, versucht der Hungarofuturismus, die Geschichte in einer Raum-Zeit-Schleife zu verbiegen. Gegen revolutionäre Neuheit und den Passéismus betreibt der Hungarofuturismus eine Art spektralen Retrofuturismus, ein Zurückkehren, das keine bloße Wiederholung ist, eine seltsame rekombinante, rekodierte ästhetische Zeitschleife, die auch ein Zeitsumpf ist und den trügerischen Gleichmut der ungarischen Ebene verkompliziert.
[6] Vgl. Kodwo Eshun, „Further Considerations of Afrofuturism“, in: CR: The New Centennial Review,3, Nr. 2 (2003): S. 287–302.
[7] Miklósvölgyi und Nemes, übers. v. Orsolya Kalász.
[8] Kovács Sándor, „Mi az, hogy posztmagyar? (Mi az, hogy! posztmagyar!) (Mi az? Hogy?)“, in: Pompeji 2 (1992): S. 70. Eigene Übersetzung für diese Publikation.
Das Gleiche gilt für die räumlichen Strategien der Bewegung; für den Hungarofuturismus stellt das Konzept des Weltalls keinen Sehnsuchtssort eines totalen Exodus dar, da dies immer noch die Möglichkeit eines nostalgischen und melancholischen Eskapismus beinhalten würde. Stattdessen bevorzugt der Hungarofuturismus die Torsion des Raums durch eine taktische Raum-Zeit-Schleife: Man verlässt den Boden, tritt einen Schritt zurück, um zurückkehren zu können; und kehrt als etwas anderes zurück, wird etwas anderes, um sich neuen Möglichkeiten zuzuwenden, neuen Organen, einer neuen Vergangenheit und einer neuen Zukunft. Dies ist der futuristische oder metaphorische Science-Fiction-Aspekt der Bewegung, indem sie zu einem kosmischen Wesen wird – in einer xenoästhetischen Transformation. Es ist dies eine Metamorphose im deleuzianischen Sinne, die ebenso eine Vertreibung in den Kosmos bedeutet wie auch unsere Rückkehr von diesem. Denn letztendlich sind die UFOs auch hier und unter uns.[9] Das Wesen des kosmischen UFO-Reisenden bedeutet, dass wir als Entführer_innen gekommen sind, um die Randzone zwischen Erde und dem Weltraum zu erkunden. Dort ist es, wo der/die Reisende Dinge begreifen lernt und Xenopolitiken praktiziert.[10] Hungarofuturist_innen tun genau das, und daran ist nichts Besonderes, ermöglichte es doch den Ungar_innen, ihre Befremdlichkeit in etwas Freundlicheres zu verwandeln, wenn sie denn ihren Ursprung und ihre Zukunft im Außerirdischen annehmen könnten.
[9] Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari, Kafka: für eine kleine Literatur, übers. v. Burkhardt Kroeber, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1976.
[10] Vgl. Matthew A. Taylor und Priscilla Wald, „Xenopolitics“, in: American Quarterly 71, Nr. 3(2019): S. 895–902.
Um zu verdeutlichen, dass der Hungarofuturismus nicht nur ein isolierter, einsamer Kampf auf dem Schlachtfeld eines Kulturkrieges ist, der vom autoritären Regime der gegenwärtigen politischen Macht in Ungarn geprägt ist, und um zu zeigen, in welcher Form unsere kritische Distanz zum historischen Futurismus der klassischen Avantgarde stattfindet, kommen an dieser Stelle Armen Avanassian und Mohan Moalemi zu Wort. Sie schreiben in dem Vorwort der Publikation Ethnofuturisms:
„Schon allein deswegen braucht es eine neue Vision der Zukunft, die zugleich alle möglichen technologischen Potenziale ausschöpft, aber auch das politische Gewicht ethnischer Diversitäten berücksichtigt – und zwar nicht als Lippenbekenntnis an eine angebliche Integrationspolitik, sondern im Hinblick auf geschichtliche Besonderheiten, die den globalen Machtpositionen weltweit zugrunde liegen. So sehr der historische Futurismus aufgrund seiner sexistischen, rassistischen und martialischen Dimensionen zu Recht verabschiedet wurde: Was noch geschaffen werden muss, ist ein Zugang zur Frage der chronocommons, also jener die historischen Ideen des Futurismus verfremdenden xenofuturistischen Ressourcen, die das Hier und Jetzt schon infiltrieren – und zwar jenseits irgendwelcher Phantasmen ethnopluralistischer Authentizität und Ursprünglichkeit.“[11]
Der Begriff der chronocommons impliziert auch eine bestimmte Art von Gemeinschaft, die eine Sensibilität für das Alt-Neue vereint, eine retrofuturistische Offenheit also; denn bestimmte Gesten gegen die Vergangenheit sind ebenso selbst schon zu historischen Ereignissen geworden wie viele utopische Bewegungen später nur mehr Überbleibseln ihrer ursprünglichen Versprechen sind. Dies bedeutet nicht, dass nur eine Vergangenheit im bloßen archivarischen Sinne existiert, sondern dass imaginäre Praktiken der Zukunft als Kritik der Gegenwart nur möglich sind, wenn wir uns der Vergangenheit öffnen. Die Schaffung und Aufrechterhaltung von chronocommons (das heißt, die Herstellung einer gemeinsamen Zeit auf der Grundlage eines gemeinsamen sensus communis) ist daher immer ein anachronistisches Unterfangen, da dies gleichzeitig die Produktion einer alternativen Vergangenheit und einer alternativen Zukunft bedeutet, die sich gegenseitig überschneiden. Diese Erkenntnis, das Erlangen einer ethnofuturistischen Sensibilität, findet sich nun auch im Titel des Projekts in der Kunsthalle Exnergasse wieder, der den Titel von Anders Kreugers Aufsatz über die finno-ugrische ethnofuturistische Bewegung zitiert: Leaning on the Past, Working for the Future.[12]
[11] Armen Avanessian und Mahan Moalemi (Hg.), Ethnofuturismen, Berlin: Merve Verlag, 2018, S. 38–39.
[12] Anders Kreuger, „Ethno-Futurism: Leaning on the Past, Working for the Future“, in: Afterall: A Journal of Art, Context and Enquiry 43 (2017): S. 116–133.
Zsolt Miklósvölgyi & Márió Z. Nemes