Sorge(n) um die Demokratie

© Kevin Woblick

Sorge(n) um die Demokratie

Ein Beitrag von Verena Kettner

In Zeiten wie diesen gilt es, sich um die Demokratie zu sorgen. Verena Kettner über die demokratische Handlungsmächtigkeit, die in queeren Beziehungen liegen kann.

Lesezeit: ca. 4 Minuten

Eine Studie des Sozialforschungsinstituts „Foresight“ ergab letztes Jahr, dass in Österreich nur 44 % der jungen Menschen finden, dass das heimische politische System funktioniert. 90 % finden allerdings, dass die Demokratie an sich die beste Staatsform ist. Als Vergleichswert: 2018 waren noch ganze 69% zufrieden mit dem österreichischen demokratischen System. Dass etwas grundlegend schiefläuft, ist offensichtlich. Es hätte keinen „Volkskanzler“ gebraucht, um das zu verstehen. Er wird leider trotzdem für die nächsten Jahre ein wichtiger Player in unserem politischen System sein. Was also tun, wenn das Volk seine Herrscher schlecht auswählt?[1] Was, wenn eine Mehrheit der Bevölkerung Faschist*innen an die Macht wählt? Es wird umso wichtiger, dass wir Alternativen entwerfen und die Demokratie nicht einfach aufgeben, sondern nach unseren Vorstellungen umgestalten.

Handlungsmacht im Kleinen

„Unsere Demokratie ist in Gefahr“ schallt es von den Donnerstagsdemonstrationen, die sich gegen eine Regierungsbeteiligung der FPÖ richten, in verschiedenen österreichischen Städten, verbunden mit dem Aufruf „Schützen wir unsere Demokratie!“ Die Demos sind zwar bunt und laut und groß, aber ihre realpolitischen Auswirkungen sind dennoch – milde ausgedrückt – überschaubar. Glücklicherweise lebt Demokratie aber von jeglicher politischen Beteiligung und diese geht über Wahlen und Demonstrationen hinaus. Auch unser Handeln im Alltag kann durchaus als politisch und vor allem als politisch relevant verstanden werden. Wie wir uns zueinander verhalten, ist nicht nur für uns als menschliche Wesen und als Gesellschaft wichtig, es prägt auch die Werte unserer Demokratie.

Sorgende Demokratien

Ebenso wie jeder andere gesellschaftliche Bereich, ist die westliche Demokratie im 21. Jahrhundert nicht nur bedroht vom Faschismus, sondern auch zerfressen vom neoliberalen Kapitalismus. Der wirtschaftliche Profit entscheidet mit – oder entscheidet vielleicht sogar hauptsächlich über die politische Agenda. Feminist*innen machen bereits seit Jahrzehnten darauf aufmerksam, dass die fortschreitende Neoliberalisierung nicht nur für soziale, ökologische und wirtschaftliche Lebensumstände ein Problem darstellt, sondern auch demokratiepolitisch schwierig ist – vor allem, weil Neoliberalismus und Patriarchat leider ebenso gute Buddies sind wie Trump und Musk. Das Voranschreiten des neoliberalen Kapitalismus führt dazu, dass die Verwertbarkeit und Individualisierung des Menschen noch weiter aufgewertet werden. Im Gegensatz dazu werden Sorgetätigkeiten noch stärker abgewertet, da sie in kapitalistisch-patriarchalen Systemen von Anfang an als selbstverständlich angenommen wurden. Ohne diese Sorgetätigkeiten könnten wir als Menschheit allerdings nicht überleben. Nicht nur Kinder, alte und kranke Menschen brauchen Fürsorge und Pflege, sondern alle Menschen. Wir sind aufeinander angewiesen. Wir brauchen warme Worte, tröstende Blicke, Schultern zum Anlehnen. Wir brauchen den Austausch miteinander, ein verständnisvolles Lächeln in der Straßenbahn, einen beruhigenden Händedruck. In manchen Phasen unseres Lebens brauchen wir tatsächlich auch die materiellere Art von Sorge: Eine Person, die für uns kocht, weil wir zu schwach sind, die für uns einkauft, wenn wir mit einem eingegipsten Bein zu Hause auf der Couch liegen oder die uns rechtzeitig ins Bett bringt, weil wir noch zu jung sind, um das allein machen zu können. All diese – meist von FLINTA* ausgeführten – Tätigkeiten werden in unserer patriarchal-kapitalistischen Gesellschaft nicht wertgeschätzt. Sie werden zu wenig oder auch gar nicht bezahlt und als etwas Selbstverständliches wahrgenommen, das FLINTA* in ihrem Privatleben „aus Liebe“ machen. Nicht umsonst betonen Feminist*innen bereits seit Jahrzehnten, dass es so etwas wie die „Privatheit“ nicht gibt. Jeder Bereich des menschlichen Lebens ist politisch und sollte als politische Agenda ausgehandelt werden. Jeder Bereich gehört demokratisch behandelt und wertgeschätzt. Erst aufgrund dieses Fundaments können auch demokratische Prozesse wieder fürsorglicher und liebevoller gestaltet werden.

© Kevin Woblick

Queer Care

Queere zwischenmenschliche Beziehungen sind schon lange ein Vorreiter im liebevollen Aushandeln, wie wir miteinander umgehen wollen. Denn viele queere Beziehungen können oder wollen sich nicht an einen gewissen heteronormativen Verhaltenskodex halten, der beispielsweise vorschreibt, welche Person in der Beziehung rational und zielstrebig und welche Person emotional und fürsorglich sein sollte. Viele queere Menschen können sich auch nicht auf Institutionen wie beispielsweise die Herkunftsfamilie oder die staatliche Gesundheitsversorgung verlassen, wenn es um ihre Bedürfnisse geht. Umso wichtiger ist es, ein stabiles Sicherheitsnetz mit der selbst ausgesuchten Wahlfamilie aufzubauen. Was dieses Sicherheitsnetz beinhalten soll und wer wie genau Teil davon ist, ist Aushandlungssache. Auch wie diese Aushandlung aussieht, ist offen, solange die Bedürfnisse aller Beteiligten wahrgenommen werden. Auf dieses Thema nahmen auch Arbeiten der Ausstellung „Care Webs and Cuddles“ Bezug, die noch im Februar in der Kunsthalle Exnergasse im WUK zu sehen war. In der Ausstellung fanden die Bedürfnisse queerer Menschen einen Platz, teilweise wurden auch Behinderungen, Neurodiversität und Körpernormen angesprochen. Vor allem aber zeigten die Performances und Ausstellungsstücke die feinen Linien, die Queers zwischen einander weben und die Zärtlichkeit, mit der sie sich begegnen, sich wahrnehmen und aufeinander eingehen. Jedes Bedürfnis ist einzigartig, wird ernst genommen und offen verhandelt. Niemand wird zurückgelassen. Vielleicht ist dies eine gute Basis, um darüber nachzudenken, wie Demokratie in Zukunft aussehen sollte.

[1] Das Wort „Demokratie“ kommt vom altgriechischen Begriff „demokratia“, was „Herrschaft des Staatsvolks“ bedeutet. Es setzt sich aus den Wörtern „demos“ (Staatsvolk) und „kratos“ (Gewalt, Macht, Herrschaft) zusammen.

Text: Verena Kettner hat Politikwissenschaft in Wien studiert. Verena Kettner arbeitet zurzeit mit jungen Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten und schreibt regelmäßig für das feministische Magazin an.schläge.

DEMOKRATIE
Versuchsanstalt für immer.

Demokratie ist ein Prozess des Aushandelns, Anpassens, Verteidigens. Sie braucht Begegnung und Gespräch. 2025 wollen wir aus unterschiedlichen Perspektiven über Demokratie reden. Und die Frage stellen: Was tun?

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