Mehr als die Summe der einzelnen Teile

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Foto: Florian Pennauer

Mehr als die Summe der einzelnen Teile

Text von Lukas Meschik

Über das Musikschaffen während der Corona-Krise und die Bedeutung des Live-Erlebnisses.

Vor Kurzem ist das erste Album meines Musikprojekts Moll erschienen. Es heißt schlicht und einfach „Musik und ist jetzt in der Welt, man kann es hören auf den diversen Plattformen, hin und wieder läuft der eine oder andere Song sogar im Radio. Auch erwerben kann man es, in digitaler und physischer Form. Trotzdem fühlt sich dieser Release seltsam unabgeschlossen an, bleibt da ein gewisses Gefühl der Leere – denn Konzerte spielen können ich und meine Mitmusiker derzeit nicht. Und wie schön wäre es jetzt, dafür irgendjemandem die Schuld geben zu können. Selbst das fällt ins Wasser, denn auch wir fühlen uns dem Grundkonsens von Maßnahmen verpflichtet, die wissenschaftlich fundiert sind, solange sie in ihrer zeitlichen Dimension und Konsequenz nicht übers Ziel hinausschießen – wohlgemerkt sollten wir alle die Vorgänge kritisch und in wachem Ernst begleiten. Schuld ist der depperte Corona.

Wie bei so vielen – eigentlich bei allen – Künstler_innen ist auch bei uns das Musizieren und die Begegnung mit den Hörer_innen völlig in den virtuellen Raum abgewandert. Als Alternative zum geplanten Release-Konzert spielte ich allein ein Wohnzimmer-Konzert über Livestream am Label-Kanal. Manches war wie sonst auch: Die nervöse Vorfreude, das Kribbeln im Bauch, das Bereitlegen der Utensilien (Setlist, Kapodaster und ausreichend Plektren, falls eines aus der Hand fällt.) Doch ich befand mich nicht an einem besonderen, feierlichen und vor allem gemeinschaftlichen Ort. Wie in einer finsteren Dystopie saß ich allein auf meinem Wohnzimmersessel, nippte nervös an meinem Bier und spielte auf der Gitarre meine Songs in Kamera und Mikrophon des Laptops – hinein ins Schweigen des Raums.

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Das Konzert war weniger seltsam als befürchtet. Nach einiger Zeit stellte sich eine gewisse Gelassenheit ein, ich entspannte mich und bekam Lust, zwischen den Songs ein bisschen zu plaudern. Das Mitlesen des Live-Chats während des Spielens hätte mich überfordert, erst später habe ich es nachgelesen. Und schön war es, zu sehen, dass sich manche Zugeschalteten ehrlich bedankten für diese kleine Abwechslung. Von manchen wurde sogar etwas gespendet, also auf eine gewisse Weise Eintritt bezahlt. Alles im Kontext, das hier als eine Art Appetizer fürs eigentliche Konzert zu genießen, das man sich möglichst bald wünscht. Im Nachhinein war zwischen mir und den Menschen so etwas wie eine Wärme zu spüren, doch sie war gedämpft und fern. Livestreams können nur eine Notlösung sein, die seltene Ausnahme, die eine Regel bestätigt.

Das Virtuelle strebt in die Wirklichkeit. Es hat einen Grund, dass bekannte YouTuber auf Messen und Events von ihren Fans überrannt werden: Als Menschen suchen wir das Menschliche – die echte Begegnung, den echten Blick, die echte Berührung. Weniger ist auf Dauer nicht genug. Für Theaterschaffende und Performer_innen sind unsere seltsamen Zeiten gerade besonders schwer; in jeder Hinsicht, finanziell genauso wie innerlich, denn das Publikum kann nur sporadisch und durch den Filter des Digitalen erreicht werden. Als Musiker läuft die Arbeit immerhin auf zwei Ebenen ab, beide haben ihren Platz und ihren Wert. Einerseits das Aufnehmen, die Produktion, das Herumtragen der Musik. Andererseits das Konzert – im besten Fall umgeben von einer Vielzahl an Gleichgesinnten, mit denen man das Erlebnis teilen kann. Und wie heißt es bei der wunderbaren Band Kante so schön: „Wir haben Gitarren, das Klavier und den Bass. Wir haben das Schlagzeug, den Gesang, und all das. Ist in guten Momenten für eine Weile. Mehr als die Summe der einzelnen Teile.“ Das Live-Erlebnis ist der Ort, an dem alles zusammenkommt, an dem alles kulminiert. Hier findet Kunst, hier finden wir als denkende und fühlende Wesen statt.

Foto: Florian Pennauer

Danach, wenn sich der Staub bald gelegt haben wird – früher als befürchtet, aber später als erhofft – möchte ich dann wirklich niemanden etwas sagen hören wie: „Naja, so viele Bühnen und Locations und Veranstalter brauchen wir eh nicht, man hat ja gesehen, dass das meiste auch im Internet ganz gut funktioniert. Dem stelle ich mich mit aller Vehemenz entgegen und lade jeden und jede dazu ein, dasselbe zu tun. All diese Notlösungen im Netz sind ein Trostpflaster, um den Zeitraum bis zu echten Konzerten, Theaterstücken und Performances zu überbrücken. Und sie sind eine Anstrengung, nicht zuletzt in organisatorischer und technischer Hinsicht, bedeuten eine Mehrarbeit, die nicht selbstverständlich und nicht jedem möglich ist. Eine Art „Gesundschrumpfen in diesem Bereich braucht es nun wirklich nicht, im Gegenteil – gerade offene Orte der friedlichen Begegnung mit einem anspruchsvollen Programm, das herausfordert und kritisches Denken fördert, sind neben integrer Justiz, professionellem Journalismus und kritischer Öffentlichkeit die Grundlage für eine funktionierende Demokratie, die diesen Namen auch verdient. Sie dienen der geistigen, psychischen – und damit eben auch der physischen – Gesundheit. Sie stiften jenen Zusammenhalt, den wir gerade in Zeiten wie diesen so dringend brauchen und zurecht stolz hervorheben. Die vielbeschworene „neue Normalität“ wird für mich – und viele andere – darin bestehen, die Möglichkeiten des Kulturlebens neu wertzuschätzen und auf ihrem Wiederaufblühen zu beharren. Wenn überhaupt, dann brauchen wir mehr dieser Orte.

Das Debüt "Musik" von Moll ist bei Problembär Records erschienen.

Wir alle haben Hunger auf Kunst: auf Konzerte, Lesungen, Theater, Kino, Museum. Die Künstler_innen scharren bereits in den Startlöchern, und die Besucher_innen reiben sich die Hände in freudiger Erwartung. Auch meine Band und ich, wir fiebern schon dem Tag entgegen, an dem die Türen geöffnet werden und wir in verdunkelte Räume strömen dürfen, um den Leuten unsere Musik vorzuspielen, und jener der anderen zu lauschen. Ich glaube, das werden die schönsten Konzerte unseres Lebens – für uns genauso wie für unsere neuen virtuellen Freunde. „Wir bringen sie zum Klingen, sie bringt uns durcheinander. Wir verstehen sie so wenig wie wir uns untereinander. Denn in manchen Momenten ist sie für eine Weile. Mehr als die Summe der einzelnen Teile.“

Lukas Meschik, geb. 1988 in Wien, ist freischaffender Schriftsteller und Musiker. Zuletzt erschien das „Vaterbuch“ (Innsbruck 2019). Im Sommer 2019 war er für den Ingeborg Bachmann-Preis nominiert. Frontmann seines Musikprojekts Moll – das erste Album „Musik erschien am 20. März 2020 auf Problembär Records. Derzeit betreibt Meschik unter www.coronarrativ.com ein öffentliches Notizbuch zur eigenen und allgemeinen Erbauung. Seit 17. März erscheint täglich gegen 19 Uhr ein neuer Eintrag. Auf das Live-Erlebnis einer globalen Pandemie hätte er gerne verzichtet.

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