Geschichte von oben und unten

Ausschnitt eines Bücherstapel von unten mit groben Seiten
(c) Florian Wieser

Geschichte von oben und unten

Für eine kritische Geschichtsschreibung

Wer sich tief ins kollektive Gedächtnis einer Nation gräbt und für welche Menschen es darin keinen Platz gibt, ist eine brisante politische Frage.

Text von Brigitte Theißl

„Frei von Schuld zu sein, heißt nicht, frei von Verantwortung zu sein“. Ihre Rede bei der Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Parlament widmete Christine Nöstlinger 2015 der Erinnerung und dem Vergessen. Im Nachkriegsösterreich machte man es Zeitzeug_innen „nicht immer leicht“, wie die Autorin erzählte. Besonders jenen, die wie sie erlebt hatten, „wohin Rassismus geführt hat“, und die die Verantwortung wahrnahmen, nachfolgenden Generationen davon zu erzählen: „Vielen waren sie einfach zu unbequem, sie störten beim Vergessen, beim Behaupten, völlig ahnungslos gewesen zu sein, beim Beklagen dessen, was man selbst im Krieg erlitten und verloren hatte, und vor allem beim selbstzufriedenen Neuanfang.“

Woran und an wen es nötig, ja wert ist, sich kollektiv zu erinnern, ist nicht zuletzt eine Frage politischer Machtverhältnisse – Erinnerung ist niemals neutral. Heroische Erzählungen, die sich im öffentlichen Raum in Form von Denkmälern und Straßennamen, Prachtbauten und Ritualen manifestieren, waren vom 19. Jahrhundert ausgehende zentrale Elemente in der Herausbildung von Nationalstaaten. Sie dienten dazu, eine Herkunftserzählung und damit ein Wir-Gefühl zu kreieren, das schlussendlich von aggressiven, nationalistischen Gruppen instrumentalisiert wurde.

In die Geschichte einschreiben

Dass aber auch die Geschichtswissenschaft selbst keineswegs von einem rein objektiven Erkenntnisinteresse geleitet war, machten feministische Aktivistinnen und Forscherinnen besonders eindrücklich deutlich. So kritisierten sie jenen androzentrischen Blick, der unbenannt und damit unsichtbar die wissenschaftliche Praxis prägte: (Weiße) Männer forschten mit Männern über Männer. „Der Anstoß, die Geschichtswissenschaft mit neuen, Existenz und Lebensweise von Frauen betreffenden Fragen und Themen zu bereichern, kam von außerhalb der Community, er kam von der Frauenbewegung“, schreibt die Politikwissenschafterin Sieglinde Rosenberger. Feministische Historiker_innen begannen, den Geschichten von Frauen in politischen Institutionen, im Alltagsleben, in Kunst und Wissenschaft, in der Erwerbsarbeit nachzuspüren – den Biografien jener Frauen, die aus der Geschichte herausgeschrieben worden waren. Dies traf keineswegs nur Frauen, die – mit ganz unterschiedlichen Ressourcen ausgestattet – ohnehin nie eine homogene Gruppe darstellten. Auch Klassenverhältnisse prägten und prägen die Geschichtsschreibung und damit unser kollektives Gedächtnis wesentlich. Insbesondere, wenn Historiker_innen und Aktivist_innen bei ihrer Arbeit auf das Material in offiziellen Archiven angewiesen sind, lässt sich die Geschichte von Arbeiter_innen, Bäuer_innen, von Armutsbetroffenen und sozial Ausgegrenzten nur sehr schwer rekonstruieren.

Geschichte von unten

Mit den neuen sozialen Bewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre wuchs in Österreich das Interesse an einer kritischen Auseinandersetzung mit Geschichte. Unter dem Begriff „Geschichte von unten“ versammelten sich Akteur_innen, die sich der Alltagsgeschichte vor allem diskriminierter Gruppen widmeten und die Geschichtsforschung ein Stück weit demokratisierten. „Für die Beziehungen zwischen Forscher*innen und Überlebenden entwickelten vor allem Feminist*innen ganz neue Methoden: Sie betrachteten die Überlebenden nicht als bloße ‚Zeitzeug*innen‘, die als ‚Belege‘ historischer Abhandlungen herhalten sollten, sondern interessierten sich für die Menschen und ihre Lebensgeschichten“, schreibt Sylvia Köchl, selbst in der Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück aktiv, im feministischen Magazin an.schläge zur Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Geschichte.

In Österreich und Deutschland war es nach 1945 die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen, die die Debatten um Erinnern und Vergessen, um kollektive Schuld und Verantwortung prägte – und das bis heute tut. Selbst Bruno Kreisky, dessen Regierung in den 1970er-Jahren für eine Politik der Erneuerung in Sachen Familienrecht, Bildung und Verteilungsgerechtigkeit verantwortlich zeichnete und der selbst vor den Nazis ins schwedische Exil geflüchtet war, hatte ein schwieriges Verhältnis zur österreichischen Vergangenheitsbewältigung, das in der „Kreisky-Peter-Wiesenthal-Affäre“ gipfelte. Der Holocaust-Überlebende Simon Wiesenthal machte die SS-Vergangenheit des damaligen FPÖ-Obmanns Friedrich Peter öffentlich. Kreisky verteidigte Peter und kritisierte Wiesenthal scharf für seine Aussagen.

Umdeutung und Raumgabe

Für die FPÖ stellt die österreichische Gedenkkultur bis heute ein konfliktbehaftetes Thema dar. So unterstützten Funktionär_innen etwa das „Totengedenken“ des Wiener Korporationsringes, das noch bis 2012 am Heldenplatz stattfand. Erst 2013 besetzte die Republik Österreich den Platz am 8. Mai – dem offiziellen Ende des Zweiten Weltkriegs und damit der Befreiung vom NS-Regime – und deutete ihn zu einem „Fest der Freude“ um, wo auch Überlebende des Holocausts zu den Redner_innen zählen und die Wiener Symphoniker ein frei zugängliches Konzert geben.
Der Heldenplatz, jener geschichtsträchtige Ort, an dem sich im März 1938 tausende Menschen für die Rede Adolf Hitlers zum „Anschluss“ Österreichs versammelt hatten, wird mit dem „Fest der Freude“ somit zu einem Ort des Erinnerns und Gedenkens, der jenen Menschen Raum gibt, die manchen vermutlich immer noch „unbequem“ sind.

„Vielleicht ist es ja so: Über den allgemein bekannten sieben Hautschichten hat der Mensch als achte Schicht eine Zivilisationshaut. Mit der kommt er nicht zur Welt. Die wächst ihm ab Geburt. Dicker oder dünner, je nachdem, wie sie gepflegt und gehegt wird. Versorgt man sie nicht gut, bleibt sie dünn und reißt schnell auf, und was aus den Rissen wuchert, könnte zu Folgen führen, von denen es dann betreten wieder einmal heißt: ‚Das hat doch niemand gewollt!‘“, so beendete die im Juni 2018 verstorbene Christine Nöstlinger ihre Gedenkrede im Parlament.

Brigitte Theißl lebt als freie Journalistin und feministische Erwachsenenbildnerin in Wien. Sie ist Redakteurin beim feministischen Magazin an.schläge und bloggt unter www.denkwerkstattblog.net

Im WUK widmen sich im November zwei Veranstaltungen dem Hin- und Wegsehen

Toxic Dreams: The Bruno Kreisky Lookalike
Performance
Sa 17.11. bis Sa 24.11., 19.30 Uhr, Saal

Follow the Rabbit: Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute (ab 10)
Kindertheater
Fr 9. und Sa 10.11., Museum

 

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