Hallo Straße

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Hallo Straße

WHY befragt die Straße zu ihren Befindlichkeiten

Das Interview mit der Straße - Anlässlich des Straßenfests von WUK und HLMW9 am 6.10. und 7.10.2023

Hallo Straße, wie geht’s?

Hi, naja es geht, hier im Vierzehnten haben sie mich gerade wieder einmal aufgerissen und einen alten Baum auf mir gefällt, um an der Stelle einen Radweg zu planieren, verrückt nicht? Welche Radfahrer_innen würden schon einen Baum dafür opfern, um ungehindert durchbrettern zu können…?

Apropos Wien und alt. Wo kommst du eigentlich her, wie alt bist du und wie heißt du mit vollem Namen?

Puh, dazu gibt’s eigentlich keine kurze Antwort, auf meiner Geburtsurkunde steht zwischen Ur und Babylon, datiert irgendwann 4000 v.Chr., aber auch ein Sumpf in Glastonbury in Bretterform. Die Sumerer_innen verwendeten Bitumen, „Erdpech“-Vorkommen, das schwarze klebrige Zeug als natürlichen Asphalt, der sogar die Arche Noah abdichtete. Ich hatte schon viele Namen in vielen Sprachen. Das deutsche Straße und englische street kommt jedenfalls vom Lateinischen via strata; strata für die Schicht, die Pflasterung oder von streuen, sich ausbreiten, vernetzen würde mensch heute sagen. Ich wuchs dann, um‘s abzukürzen, als Bernsteinstraße in diese Gegend, und weiß ich wohin, ich kenn ja gar nicht alle meine Gliedmaßen und Organe. Ich weiß das alles von den vielen Fußnoten, die von Stadtforschenden hinterlassen wurden, hehe, sorry, der Witz musste einfach sein!

Straße oder street durfte mensch eigentlich nur zu einer echten Städterin wie mir sagen, zur ur-römischen Pflasterstraße, bitte sehr. Hey, ne Straße ist eben kein Dorf!
 

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Apropos Dorf. Gerade im Herbst gibt’s wieder so viele Feste auf den Wiener Straßen, und auf den Plakaten prangt alles mögliche, Dorffest, Kirtag, Gassenfest…Kannst du dich mit dieser Rolle identifizieren?

Ach, was die Leute auf mir nicht alles aufführen. Weil du Kirtag sagst, in Neapel wird z.B. das sogenannte Blutwunder von San Gennaro auf mir zelebriert, um zu sehen, ob die Stadt im nächsten Jahr Glück hat oder nicht, und sowas – es begann mit kultischen Umzügen und reicht bis heute zum Christopher Street Day oder dem Karneval in Rio, Militärparaden lass ich mal am Pannenstreifen. Im deutschen Wikipedia hab ich übrigens nix unter „Straßenfest“ gefunden, das scheint eben stärker auf meinen angelsächsischen Abzweigungen vertreten zu sein.

Denn in New York sind im 1. Weltkrieg die Leute der armen Viertel bei den „Block Parties“ zur Erinnerung an ihre Lieben an der Front zusammengekommen. In England hat es sich dann zum Monarchistischen verlagert, wo die Leute bei den „Street Parties“ lange Tische auf mich stellen und den Königen und Königinnen mit Selbstgebackenem und Tee huldigen. Jetzt erst wieder bei Charles mit der umstrittenen französischen Quiche, meine Güte. In den Niederlanden ist es immer im April der Koniginnedag, jetzt mit Willem Alexander Koningsdag. Den nutzen sogar gänzlich unroyalistische Hausbesetzer_innen, um unkompliziert im öffentlichen Raum feiern oder einen Flohmarkt und Konzerte veranstalten zu können.

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Rund 1995 ist in London auch die Reclaim-the-Street-Bewegung entstanden, ich soll dann zu Deutsch also von den Autos und Konsumtempeln zurückerobert werden. Weil ich weiß: gerade in Wien ist es unfassbar langwierig, mich von den Autos absperren zu lassen. Spontan ist da nichts, in meinen anderen Ländern, im Süden eher, stellen sie einfach, oder notgedrungen, die Tische raus und essen, trinken und sitzen in mehreren Großfamilien herum, weil drinnen zu wenig Platz ist. In den westlichen Industrieländern ist es oft eigentlich eine Party der lokalen Wirtschaft oder Politik, die Geschäfte oder Parteien zahlen und präsentieren sich. „Party“ kommt ja auch von Frz. partir, also absondern, trennen, im Gegensatz zur vernetzten strata…fast ein Widerspruch in sich, haha!

Wer kennt in Wien nicht das ehemalige „schwarze“ Stadtfest und jetzt den „Neustifter Kirtag“ in Lederhosen und Dirndl und das „rote“ Donauinselfest mit SPÖ-Luftburgen und Stadtwerke-Quiz. Die eher grün(lich) wählenden Bobos von NY bis Wien versammeln sich wiederum zur dörflichen Idylle, natürlich nur am Wochenende, vor ihren sanierten Häusern mit teuren Greislereien, die es jetzt statt den früheren, die wegen der hohen Miete schließen mussten, gibt. Da bin ich mit vielen Stauden und den neuen Nebelduschen gespickt und weniger Autos, die sind in der Garage oder im Carport am Zweitwohnsitz. Es ist schon manchmal entwürdigend, wenn ich alte mesopotamische Seele dann mit Fingerfarbe und Wimpeln dekoriert werde. Und wenn ich mich damit beginne anzufreunden: Um 22 Uhr ist alles abgebaut und brausen wieder die SUVs auf mir dahin.

Und überhaupt all die Autos, sind die für dich keine buchstäbliche Belastung?

Ja schon, ich scheine weniger für Füße als für vier Räder da zu sein, scheint‘s. Sie formen mich dann auch meist unvorteilhaft breit, trotzdem kann ich kaum atmen – die Pflanzen wachsen nur durch meine ausgelassenen „Ohrwascheln“ und „Baumscheiben“ – außer, sie perforieren mich wie einen Schwamm, wie damals im sumpfigen Glastonbury.

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Wir fragen das alles auch, weil du jetzt quasi als temporäre „Brücke“ zwischen dem WUK und der Fachschule und den verschiedenen dort ansässigen urbanen Institutionen und Gruppen „bespielt“ wirst, wie es so schön heißt.

Nur zu, Brücke bin ich besonders gerne und dann werd ich ja sozusagen zum zweiten Bildungsweg! Wünsche schonmal alles Gute für die Genehmigungen von 100 Magistraten für einen Tag wasserlöslicher Farbe anstelle meiner fossilen Stammgäste. Oft können sich nämlich die Menschen mich gar nicht mehr ohne Metallikverkleidung vorstellen, das ist dann sicher ein ungewohnter und daher inspirierender Anblick, wie ein schönes Gesicht ohne Make-up. Dort bin ich zwar nur die Severingasse, aber vielleicht bringt euch ja der Heilige so wie in Neapel viel Glück für die Zukunft!

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Text: WHY

WHY sind Christine Schöffler & Peter Blakeney, die sich selbst und der _society, der menschlichen wie der nicht- und mehr-als-menschlichen gerne Fragen stellen. Diesmal haben WHY für das WUK, dem sie seit ihrer Zeit in der High Society der Subkultur in Wien und Rotterdam schon viele Jahre verbunden sind, anlässlich des kommenden Straßenfests eine Straße zu ihren Befindlichkeiten interviewt.

 

 

 

Common Ground.Severingasse
Das Straßenfest zwischen WUK und HLMW9

Am 6. und 7. Oktober 2023 verwandelt sich die Severingasse zwischen WUK und HLMW9 – Schule für Wirtschaft und Mode für zwei Tage zum "Common Ground", zur nachbarschaftlichen Begegnungs- und Verweilzone, zu einem barrierefreien Ort der Begegnung für alle, zum Straßenfest.

Am Programm stehen Konzerte, Performances, Präsentationen, Workshops, eine Modeschau, ein Pop-Up Heuriger, Kunst und vieles mehr. Im Rahmen des urbanize! Int. Festival für urbane Erkundungen finden Führungen durch die denkmalgeschützten Backsteinziegelbauten des WUK und der HLMW9 statt, die ursprünglich Teil derselben Lokomotivfabrik waren.

Nähere Infos zum Programm

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