Hände hoch! Applaus, Applaus
Mehr als menschlich
Wie offen sind wir gegenüber unseren nichtmenschlichen Zeitgenoss_innen? Sind wir bereit etablierte Privilegien aufzugeben und Raum abzutreten? Der ausgeprägte Überlegenheitsanspruch der Spezies Homo Sapiens geht von einer Sonderstellung des Menschen im Zentrum der weltlichen Realität aus. Diese, auch als Anthropozentrismus bezeichnete Weltsicht, hebt den Menschen hierarchisch über alle anderen Lebewesen und ignoriert seine Zughörigkeit als (Säuge-)tier zu der Familie der Primaten fast gänzlich.
Auch Carlos wurde als Heimtier – trotz des Verwehrens eines Studienplatzes – anderen Tierarten gegenüber eine Sonderposition innerhalb unserer Gesellschaft zuteil, vergleichen wir sein 14-jähriges Hundeleben beispielsweise mit dem „Leben“ eines sogenannten Nutztieres, zweckdienlich als Milchkuh, Zuchtsau oder Legehenne benannt. Wildtiere und ausgewilderte Haustiere haben innerhalb der Mensch-Tier-Beziehung auch keine bessere Ausgangslage. Ratten und Tauben würden sich bei einem speziesübergreifenden Ranking der unbeliebtesten Anrainer_innen Wiens wohl die ersten beiden Plätze sichern. Carlos’ Artverwandte, die Wölfe, österreichweit vermutlich drittplatziert.
„Speziesismus“ ist das Wort, das dieses Missverhältnis zwischen den Arten bezeichnet. Der Begriff steht für die Diskriminierung von Lebewesen aufgrund ihrer Artzugehörigkeit und deren Ausbeutung als Nahrung, Material und Forschungsobjekte. Er wurde erstmal in den 1970er Jahren von Richard D. Ryder in einem Flugblatt verwendet, um auf unseren moralischen Standpunkt Tierversuche betreffend aufmerksam zu machen.
Leben und Leid des Individuums werden aufgrund des Vorranges einer anderen Spezies nicht berücksichtigt. Fähigkeiten und Interessen der unterdrückten Spezies werden bewusst gering eingestuft, um deren Stigmatisierung zu legitimieren.
Sniffing Conversations
In Wien rückt seit 2021 der Interspecies Art Hub die zeitgenössische Mensch-Tier-Beziehung in den Fokus der Kunst. Die Plattform möchte den Austausch zwischen Kunst, Wissenschaft und Forschung innerhalb der Interspecies Art, Human-Animal Studies, Philosophie und Tierethik anregen und eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe ermöglichen. Dabei steht für die Künstlerinnen Lisa Jäger, Lena Lieselotte Schuster und Eva Seiler auch die Sichtbarmachung von besagtem Speziesismus im Zentrum ihrer Projekte. Nächster Termin ihrer aktuellen Dialogreihe „Sniffing Conversations“ist der Vortrag „Radikale Multispezies-Utopien: Künstlerische Kohabitation und Kollaboration mit anderen Tieren“ von Jessica Ullrich. Er findet am 18.10.2024 im Zuge der Ausstellung Start Sniffing in der Kunsthalle Exnergasse statt, in der u.a. auch Lisa Jevbratt vertreten sein wird.
Den Handlungs- und Lebensraum anderer Lebewesen anzuerkennen und etablierte Denkmuster innerhalb unserer Gesellschaft zu verändern sind erste Schritte auf dem Weg zu einer inklusiven Multispeziesgesellschaft.
Falls Sie jetzt applaudieren möchten, gerne, bei Anwesenheit von Heimtieren bitte möglichst geräuschlos. Wie das geht? Einfach Hände hoch und eine schwungvolle Drehbewegung mit den Handgelenken.
Tiersensible Sprache kann dabei helfen den Handlungs- und Lebensraum anderer Lebewesen anzuerkennen und etablierte Denkmuster innerhalb unserer Gesellschaft zu verändern.
Die folgenden Erklärungen sind in Anlehnung an bestehende Definitionen und Theorien enstanden und erheben keinen Anspruch auf Urheberrecht oder Vollständigkeit.
Animal Turn:
Die Wende durch den Animal Turn markiert einen Wandel des Mensch-Tier-Verhältnisses, wie gesamtgesellschaftlich über Tiere gedacht, geforscht und mit ihnen gelebt wird. Indem nicht menschliche Tiere als Subjekte einer inklusiven Gesellschaft anerkannt werden, werden traditionelle anthropozentrische Ansichten in Frage gestellt.
Anthropozentrismus:
Der Anthropozentrismus geht von einer Sonderstellung des Menschen im Zentrum der weltlichen Realität aus. Diese Weltanschauung hebt den Menschen hierarchisch über alle anderen Lebewesen.
Interspecies Art:
Kunst, die speziesübergreifend, also zwischen unterschiedlichen Arten stattfindet. Nicht menschliche Tiere können darin selbst Akteur_innen, Mitautor_innen oder auch Rezipient_innen von Kunst sein.
Nicht-menschliche Tiere, andere Tiere, mehr als menschliche Tiere:
Als Säugetier gehört die Menschenart Homo Sapiens zu der Familie der Primaten. Die Bezeichnungen menschliche und nicht menschliche Tiere oder auch andere Tiere möchte die Zugehörigkeit des Menschen zur Tierwelt betonen. Mehr als menschlicheTiere verweist dabei auf die Grenzen menschlicher Möglichkeiten.
Speziesismus:
Speziesismus bezeichnet die Diskriminierung von Lebewesen aufgrund ihrer Artzugehörigkeit und deren Ausbeutung als Nahrung, Material und Forschungsobjekte. Leben und Leid des Individuums werden aufgrund des Vorranges einer anderen Spezies nicht berücksichtigt.
Tierliche Agency:
Der Begriff tierlich wird hier bewusst anstelle des abwertend konnotierten tierisch verwendet. Der Begriff agency kann mit Handlungsfähigkeit oder auch Handlungsmacht übersetzt werden. Als Akteur*in werden dem nicht menschlichen Tier bestimmte Interessen und Einflussnahme auf sich und andere innerhalb einer gegebenen Situation zugeschreiben.
Text: Lena Lieselotte Schuster bewegt sich als Künstlerin und Kuratorin im Bereich der Interspecies Art und forscht zu kreativer Praxis nichtmenschlicher Tiere im Kunstfeld. 2021 gründete sie den Interspecies Art Hub (Verein für speziesübergreifende Kunst).