Ein Stück für die Gegenwart
Die Geiseloper beruht auf den dokumentarischen Roman Hírzárlat (Nachrichtensperre) von Csenge Hatala aus dem Jahr 2015, das wiederum eine wahre Geschichte in Ungarn des Jahres 1973 thematisiert. Warum habt ihr euch entschieden diese Geschichte in Form eines Musiktheaterstücks auf die Bühne zu bringen?
Samu Gryllus: Musiktheater ist die künstlerische Sprache, in der ich als Komponist meine Gedanken formulieren kann, besonders über solche Themen und Problemen, bei denen es nicht ausreichend wäre einen wissenschaftlichen Artikel oder ein instrumentales Stück zu schreiben. Also Musiktheater bedeutet für mich die breiteste Form von Ausdrucksmöglichkeiten. Dafür suche ich auch ständig nach Themen. 2013 habe ich in dem Ferienhaus meines ungarischen Schwiegervaters eine Mappe mit Erinnerungen von Dr. István Samu, einem Neurologen, auf dem Bücherregal gefunden. Der Arzt arbeitete 1973 in Balassagyarmat, eine Stadt im Norden von Ungarn, wo damals die erste Geiselnahme im Land passierte. István Samu wurde erlaubt in den ersten 3 Tagen der Geiselnahme als Mediator zwischen den 17 und 19 jährigen Tätern und der Polizei zu vermitteln. Die absurde Geschichte, in der zwei Jungs einen Reisepass und Geld kriegen wollen, um in den Westen fahren zu können, in einer Diktatur, wo Terror ein staatliches Monopol ist, hat mich tief berührt. In allen Details dieser Geschichte habe ich die Traumatisiertheit der Gesellschaft meiner Kindheit entdeckt. Ich wollte mich damit mehr beschäftigen und darüber in einem doch möglichst humorvollen und vor allem musikalisch und gesellschaftlich freien Event sprechen.
Brina Stinehelfer: Ich glaube an die Macht der Kunst, um Heilung und Transformation zu bringen. Durch das Erzählen der unerzählten Geschichten können wir vieles zu Ruhe bringen und vieles Lernen, um zu entscheiden, welche Geschichten wir für unsere Gegenwart und Zukunft erzählen wollen. Samus spielerische Oper ist ein schönes Mittel, um dies mit Humor und Absurdität rüberzubringen.
Ihr nennt Die Geiseloper im Ankündigungstext ein „futuristisches Event über die Vergangenheit für die Gegenwart“. Warum habt ihr diese Beschreibung gewählt?
Samu Gryllus: Für mich ist es ein Abend, an dem wir vor und durch Computer, Lautsprecher und Mikrofone, sogar mit Interaktion von Instrumenten, Kamerabildern und von durch Gesicht-Trackings generierten elektronischen Klängen eine Kammeroper spielen, schon futuristisch. Das ist noch nicht wirklich die Gegenwart der Kunstszene. Wir erleben in diesen komischen Zeiten Streamings von Events, aber was Die Geiseloper versucht zu realisieren, ist nicht ganz dasselbe. Wir reden über die Vergangenheit, weil unser Thema die Geiselnahme 1973 in Ungarn ist, als Teil eines geschlossenen Kapitels der europäischen Geschichte, aus einer Zeit, in der der eiserne Vorhang eine blutige Diktatur von der freien Welt isolierte. Es ist ein Stück für die Gegenwart, wobei wir den Wert der Freiheit klar sehen müssen, um unser Zukunft nicht in die Richtung unserer Vergangenheit zu lenken.
Brina Stinehelfer: Der Rahmen des Stücks ist aus der Zukunft, die Geschichte ist aus der Vergangenheit, und wir machen es für die Gegenwart - um eine Perspektive in die jetzige Situation zu bringen. Unter welchen alte Strukturen leben wir, von welchen wir raus wollen? Was bedeutet Freiheit? Wir hoffen dabei dem Publikum nicht nur Geschichte näherzubringen, sondern auch ein Spiegel für die Gegenwart und einen Impuls für die Zukunft zu setzen.
Bei der Geiseloper ist das Publikum eingeladen mitzusingen. Wie können wir das tun?
Samu Gryllus: Man soll einfach mutig sein. Singen kann ja fast jede_r, auch wenn nicht ganz so wie ausgebildete Opernsänger_innen. Ich arbeite oft in unterschiedlichen Kontexten mit gemeinschaftlichen Improvisationen und Publikumsbeteiligung. In der Geiseloper wollte ich ursprünglich drei Ebenen der Interaktion verwenden. Eine Ebene ist eine passive Beteiligung des Publikums, das heißt, eine Kamera analysiert wie das Publikum sich im Raum platziert, welche Farben sie tragen oder welche schnellen Bewegungen sie machen. Davon generiert ein Computerprogramm Klänge und Noten, die die Instrumentalist_innen dann verwenden können. Daneben war es für mich wichtig auch eine aktive Publikumsbeteiligung zu initiieren. Mitsingen konnte man hier ursprünglich in zwei Formen: Eine ist im Chor. Jede_r im Raum singt ausgewählte Zeilen bzw. bestimmte musikalische Linien und Melodien im Unisono mit den Bühnensänger_innen oder selbstständig den Text interpretiert. Auf der dritten Ebene der Interaktion übernimmt jemand im Publikum eine bestimmte Rolle in der Oper. Dafür bekommt sie oder er einen vorgegebenen Text und eventuell die intuitive Gestik des Dirigenten, also meiner Position. In der Onlineversion der Geiseloper sind diese Möglichkeiten doch ein bisschen begrenzt. Die zeitliche Synchronität ist im Internet nur bei bestimmten technischen Vorgaben realisierbar und wir können das auch nicht von jeder_m, der die Oper besucht, erwarten. Einfacher gesagt: Es wird komische Klänge, die nach der Analyse des Bildschirms generiert werden, geben. Daneben werde ich als Dirigent in einem kleinen Fenster auf dem Bildschirm komisch anmutende Handzeichen für diejenigen machen, die zuhause über ihr eigenes Laptop-Mikrofon den am Bildschirm vorgezeigten Text vokal interpretieren wollen. Wir bieten aber auch Plätze in unserem digitalen Raum an, wo jede_r “nur” zuschauen und zuhören kann. Wir wollen niemanden verpflichten zu singen, so wie in 1973 …
Brina Stinehelfer: Mit Mut! Mit Freude!
Was bedeutet es für euch Die Geiseloper derzeit nur digital vor Publikum spielen zu können?
Samu Gryllus: Es ist eine große Herausforderung. Wir haben einen tollen offenen Spielplatz entdeckt. Es gibt unendliche Möglichkeiten, aus denen wir schnell und meistens blind die Geeignetsten auswählen müssen. Es bedeutet auch Spass zu haben das Unbekannte zu zähmen. Es ist eine riesige Menge von Kabeln und Bildschirmen. Es bedeutet aber auch eine starke Sehnsucht wieder im gleichen Raum zu sein, gemeinsame Luft-Resonanzen, Schwingungen und Klang im Raum, zu verursachen und diese genießen zu können.
Brina Stinehelfer: Es ist immer spannend mit neuen Mitteln zu arbeiten - wir sind Pionier_innen, das bedeutet, es gibt viel Spannendes zu entdecken dabei, aber ohne viele Wegweiser entdecken wir auch einige Herausforderungen und müssen kreative Lösungen finden. Wir lernen beim Spielen, wie wir in dem digitalen Raum etwas ins Leben rufen können, der Raum an sich und was er ermöglicht - und was auch nicht - zeigt uns, was das Stück ist.