Außerdem fahren wir Auto

© TimTom

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toxic dreams über "Chitty Chitty Brecht Brecht"

Ein Unfall. Eine ausführliche Rekonstruktion in einer Zeitschrift. Aber keinerlei Informationen, ob dies auch tatsächlich so passiert ist. toxic dreams hinterfragt in "Chitty Chitty Brecht Brecht" welche Erzählungen sich durchsetzen und zieht Parallelen zu gegenwärtigen gesellschaftlichen Fragestellungen. Mehr dazu verrät die Company im Gespräch mit dem WUK Magazin.

Bertolt Brecht war leidenschaftlicher Autofahrer. Er schrieb sogar ein Gedicht, die „Singenden Steyr-Wägen“, das ihm dann nach dem Unfall, der Ausgangspunkt für Chitty Chitty Brecht Brecht ist, auch einen neuen Wagen als Werbegeschenk eingebracht hat. Aber wie passt eine antikapitalistische Haltung, die Brecht ausmacht, mit Autofanatismus zusammen?  

toxic dreams: Mit der eigentlichen Frage verknüpft wird hier bereits eine bestimmte Erzählung des Ereignisses, also Brechts Autounfall und dessen Umstände, erschaffen, die einer genaueren Betrachtung nicht standhält. Brecht schrieb das Gedicht. Brecht hatte einen Unfall. Brecht fuhr danach einen neuen Wagen der österreichischen Steyr-Werke AG. Es besteht jedoch sehr wahrscheinlich kein Zusammenhang zwischen dem angesprochenen Gedicht und dem neuen Wagen, den Brecht nach dem Unfall wahrscheinlich als Geschenk erhielt. Auch das ist nicht gänzlich gesichert, es existiert dazu kein auffindbarer Austausch zwischen Brecht und dem Unternehmen. Oder zumindest haben wir nichts dazu auffinden können.
Das ist aber ein zentraler Aspekt der Produktion und des gesamten Zyklus: Es wurde sehr viel publiziert rund um Brechts Unfall am 20. Mai 1929, auf der Fernverkehrsstraße 27, in der Nähe der Stadt Fulda. Doch im Zuge der Recherchen haben sich mehr Fragen eröffnet als Antworten gefunden, die Puzzleteile führten nie zu einem klaren Bild. Gerade diese Bruchstellen sind von besonderem Interesse für uns.
Zur Beantwortung der eigentlichen Frage: Der Widerspruch zwischen Brechts antikapitalistischer Haltung und seiner Begeisterung für das Automobil und Technologie insgesamt ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt der Arbeit. Der Unfall und dessen Rekonstruktion liefern uns sozusagen das Sprungbrett zu den größeren gesellschaftlichen Umständen. Für Brecht war der Gebrauchswert, die Nützlichkeit stets wichtiger als die Moral (zuerst kommt das Fressen). Wir handeln den Widerspruch aber weniger als moralische, sondern mehr als gesellschaftliche Frage ab, die gesamte Fortschrittserzählung der Zwischenkriegszeit bzw. der Weimarer Republik, aber auch die digitale Fortschrittserzählung heute und Parallelen zwischen beiden. Die Frage im 21. Jahrhundert wäre dann: Passt eine antikapitalistische Haltung mit der Nutzung von Google zusammen?

 

Um den Unfall zu rekonstruieren seid ihr in verschiedenen Archiven gewesen, um Originaldokumente zu sichten, habt intensiv recherchiert und auch mit Brecht-Forscher_innen gesprochen. Auf welche Erkenntnisse seid ihr dabei gestoßen?

toxic dreams: Wir haben lange Zeit nach einem Steyr-Werke Archiv mit Unterlagen aus den 1920er Jahren gesucht, wir gingen davon aus, dass es einen direkten Austausch zwischen Brecht und dem Unternehmen gab. Zu unserer Überraschung aber haben wir bis auf technische Unterlagen zu den Autokonstruktionen kaum Materialien gefunden. Wir haben auch in deutschen Archiven nach Dokumenten dazu und zum Unfall selbst (Polizeiberichte, Zeugenberichte, usw.) suchen lassen, sowohl im Brecht-Archiv als auch in Stadt-, Landes-, Staats-, Polizei- und Zeitungsarchiven. Wir haben Brechts Briefwechsel und seine Notizbücher durchgekämmt auf der Suche nach Hinweisen, etliche Biografien gelesen. Wir haben Automobil- und Werbezeitschriften gesichtet und theoretische Werke gelesen über die Bedeutung des Autounfalls in der Literatur, die Beziehung zwischen Werbung und Literatur/Literat_innen und etliches mehr. Und obwohl Bertolt Brechts Leben umfangreich dokumentiert ist, Brecht selbst und die Personen in seinem Umfeld penibel jedes kleinste Detail archiviert und geschützt haben, sind die Umstände des Unfalls eine weitgehende biografische Auslassung. Umso erstaunlicher, da dieser Unfall samt dessen Rekonstruktion möglicherweise eine wichtige Rolle spielte für den Entwurf seines Essays „Die Straßenszene“, in dem er die Grundlagen des Konzepts des Epischen Theaters skizzierte und damit das Theater des 20. Jahrhunderts revolutionierte.

Chitty Chitty Brecht Brecht ist Teil des Rashomon Arbeitszyklus, bei dem ihr dem komplexen und dialektischen Prozess von Wahrheitsfindung nachspürt. Warum hat sich gerade die Geschichte von Brechts Autounfall als Stoff für diesen Arbeitszyklus angeboten?

toxic dreams: Ganz generell werden wir im Rahmen des Rashomon-Zyklus unterschiedliche Sichtweisen, Schilderungen, Wahrheiten desselben Ereignisses untersuchen, anhand von Falldarlegungen. Wir wählen dafür Fälle, die auf verschiedene Weise und in unterschiedlichen Bereichen historische Bedeutung erlangten, auch wenn das eigentliche Ereignis profan sein mag.
Der Ausgangspunkt bzw die erste Rekonstruktion des Unfalls ist jene Unfallvariante, die im Magazin UHU (eine von Oktober 1924 bis September 1934 im Berliner Ullstein Verlag erschienene Monatszeitschrift, Anm.) im November 1929 erschien, an der Brecht selbst, der Herausgeber des UHU Magazins Peter Suhrkamp, Elisabeth Hauptmann und der Fotograf Alex Stöcker beteiligt waren, „mit freundlicher Unterstützung der Steyr-Werke AG“. Weitere Rekonstruktionen des Abends sind andere Schilderungen des Unfalls oder bauen auf einzelnen Hinweisen auf, die im Widerspruch zu Brechts Schilderung stehen. (Warum und wodurch sich eine bestimmte Erzählung durchsetzt und andere nicht, wird auch befragt in Chitty Chitty Brecht Brecht.)

Wie werdet ihr den Unfall auf die Bühne bringen?

toxic dreams: Unsere Rekonstruktionen auf der Bühne sind eigentlich zweierlei – einerseits eine Wiederholung eines realen Geschehnisses in der Vergangenheit, also Brechts Unfall, aber formal gesehen rekonstruieren wir gleichermaßen seine Dramentheorie, die in der „Straßenszene“ skizziert wird, aufgebaut auf der Situation eines Autounfalls auf einer Straße. Wir integrieren formal zentrale Elemente des Epischen Theaters, aber als toxische Träumer_innen spielen wir natürlich auch im Terrain der sinnlichen Erfahrung, der „Kulinarik“, die Brecht ablehnte. Wir versuchen uns also in einer Art „Kulinarisches Lehrstück“.
Außerdem fahren wir Auto. Gegen einen Baum. CO2-frei.

toxic dreams: Chitty Chitty Brecht Brecht

Vorstellungen
Fr 17.3. bis Sa 25.3.2023, 19:30 Uhr | tgl. außer Mo
Saal
€ 20 | 15 | 10 

Mehr Informationen findest du auf der Eventseite.

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Fr 10. / Sa 11. / So 12. Jan | 19:30 Uhr

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Fr 17. / Sa 18. Jan | 19:30 Uhr

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Do 13. / Fr 14. / Sa 15. Feb | 19:30 Uhr

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Mi 19. / Do 20. / Fr 21. Feb | 19:30 Uhr

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