Auf der Suche nach Selbstbestimmtheit
Du greifst für dein Stück den griechischen Mythos rund um Odysseus auf, der sich auf mehrjährige Irrfahrt begeben musste. Warum sind die Figur des Odysseus und das Motiv der Irrfahrt noch heute für dich von Relevanz?
Nikolaus Adler: Die griechische Mythologie beinhaltet bereits alles – alles, was uns als Menschen ausmacht – und sie ist darüber hinaus ideale Projektionsfläche und Spiegel zugleich.
Odysseus selbst jedoch war zunächst gar nicht Ausgangspunkt im Arbeitsprozess, denn da stand rein die Frage nach der tatsächlichen Freiheit des Individuums. Daraus wiederum entstanden dann eine Reihe formaler Spielregeln und Thesen und mit ihnen die Suche nach der idealen Spielwiese, um diese zu erproben.
Gewünscht war:
- Eine übergroß dimensionierte Geschichte (mindestens Liga: Ben Hur), da ich mit dem Stück das Theater mit seinen theatralen Mitteln selbst feiern und so, mit lediglich vier Personen, mindestens ein ganzes Universum erschaffen will.
- Ein Stoff, der sich über mehrere Stationen spannt, um darin jeweils andere Aspekte des Themas abzuhandeln.
- Eine Erzählung, die weit geläufig ist, um leichter für das Publikum „lesbar“ zu sein.
- Und natürlich eine Handlung, welche das Thema, also die Frage nach der tatsächlichen individuellen Freiheit, schon selbst beinhaltet.
Wessen Geschichte würde sich da besser anbieten, als die des ersten selbstbestimmten Menschen der Weltliteratur selbst, dessen Stationen sich über nicht weniger als die gesamte griechisch-mythologische Welt erstrecken, und dessen Irrfahrt, wenn auch verschüttet und vielleicht nur noch in Schlagwörtern, in den meisten unserer Gedächtnisse schlummert.
Als Kind faszinierten mich vor allem die Abenteuer; viel später erst wurde mir klar, was für eine Liebesgeschichte – und was für ein Roadmovie über uns, den Menschen selbst – hier erzählt wird.
In „sing no more this bitter tale…“ geht es um die Frage nach Selbstbestimmtheit. Wie übersetzt du diese Frage tänzerisch und choreographisch?
Nikolaus Adler: Ein Beispiel: Den ersten Anstoß zu dieser Arbeit lieferte mir das Bunraku. In dieser uralten traditionell japanischen, fast opernhaften Form des Puppenspiels steuern jeweils drei schwarz gekleidete Personen sichtbar eine einzelne Puppe.
Auch wenn das Augenmerk bei diesem Spiel eigentlich auf die Puppen und ihre Emotionen gelenkt wird, interessierte mich auch die daraus resultierende Choreographie der Puppenspieler_innen im Zusammenhang mit der von ihnen gesteuerten Figur.
Bei unserem Stück jedoch gibt es keine Puppen. Diese werden durch reale Tänzer_innen ersetzt. Wenn diese jetzt durch „Puppenspieler_innen“ manipuliert werden, drängt sich rasch beim Betrachten die Frage nach den wahren Drahtzieher_innen auf. Wer sind die neuen Gottheiten der Gegenwart? Welche äußeren Kräfte, welche inneren Stimmen beeinflussen unser Handeln?
Dies ist eines der theatralen Mittel, mit denen wir uns von Szene zu Szene der Odyssee arbeiten, und bauen so aus diesen Bausteinen ein Mosaik, das uns selbst – als Mensch – im Ozean Leben zu beschreiben versucht.
Die Tänzer_innen im Stück sind dazu aufgefordert Licht und Ton auf der Bühne selbst zu steuern. Warum hast du dich dafür entschieden?
Nikolaus Adler: Hier kommt ein weiteres dieser eben erwähnten theatralen Mittel ins Spiel, eine weitere Spielregel, um das Thema Selbstbestimmung sichtbar zu machen.
Die Idee war, ein Stück Theater in seiner reinsten Form zu schaffen. Lediglich vier Performer_innen, die miteinander spielen, die aufeinander reagieren. Alles wird von ihnen selbst gesteuert. Kein Einfluss von außen stört das Spiel. Ganz so wie das konzentrierte Spiel von Kindern. Selbstbestimmung in seiner vermeintlich reinsten Form.
Und so ergibt es sich, dass es plötzlich relevant wird, wer da von den Performer_innen sichtbar die nächste Lichtstimmung fährt, oder wer da wem einen Musikeinsatz gibt.
Ist man doch sonst im Theater gewohnt, dass das Geschehen auf der Bühne von „Geisterhand“ gesteuert wird, werden so ganz andere Emotionen und Aussagen erzeugt, alleine durch den Umstand, dass zum Beispiel mal eine Figur sich plötzlich selbst den nächsten Musikeinsatz am Computer drückt.
Durch diese Transparenz der Inszenierung wird das Spiel auf der Bühne für uns Beobachtende noch mehr zu einer Projektionsfläche unserer Fantasie und unserer eigenen Erfahrungen. Das Erlebnis, die Bilder, die entstehen, abhängig von der jeweiligen eigenen Geschichte, individuell im Kopf.
Im Ankündigungstext sprichst du von einer Versuchsanordnung, in der du das Publikum mit auf eine Odyssee nimmst. Was können wir uns darunter vorstellen?
Nikolaus Adler: Da das Bühnengeschehen völlig autark abläuft, wird für die Zuschauenden der Fakt des Von- Außen-Beobachten unterstrichen. Fast wie Wissenschaftler_innen, die in ihren weißen Kitteln und ihren Plexiglas-Brillen ihre Versuchsanordnungen überwachen, blicken wir auf das Geschehen und betrachten, wie die aufgesellten Regeln an dieser Geschichte zur Anwendung kommen.
Außerdem entsteht immer wenn von einer Reise erzählt wird unweigerlich eine Metapher für die Suche nach Freiheit und Identität. Und immer, ob Film, ob Buch, wenn sich ein_e Protagonist_in auf den Weg macht, wird die Odyssee als Beschreibung bemüht.
In unserem Stück wird das Original selbst bemüht, um uns so auf unserer eigenen Reise selbst zu spiegeln.