Lies of Civilization

Lies of Civilization

4 aufstrebende Komponist_innen beschäftigen sich mit dem Festivalthema Mythos Zivilisation

Vier junge, aufstrebende Komponist_innen haben für die Musiktheatertage Wien jeweils ein Stück komponiert, das sich mit dem Festivalthema Mythos Zivilisation auseinandersetzt. Wir haben die vier Komponist_innen zu ihrem jeweiligen Stück befragt.

Baut die westliche Zivilisation auf einen Mythos auf? Oder doch nur auf Lügen? Fakt ist, dass die schöne, ordentliche und ach so kluge westliche Zivilisation lieber Dinge wegschiebt, als sich mit ihr zu beschäftigen - siehe die Tonnen an Elektroschrott, die an irgendwelche afrikanischen Häfen verschippert werden, um dort mühsamst und lebensgefährend "recycelt" zu werden - überspitzt formuliert. Vier aufstrebende Komponist_innen haben sich mit Zivilisationslügen auseinandergesetzt und sie künstlerisch-musikalisch zur Diskussion gestellt.

Øyvind Mæland, dein Stück setzt sich mit Fragen des Klimawandels, sozialer Ungerechtigkeit, etc. auseinander. Hast du Strategien, um das Publikum dazu einladen ihr Verhalten zu überdenken, das sich ja auch auf Klimawandel und soziale Ungerechtigkeit auswirkt?

Nun, wir sind offensichtlich Gewohnheitstiere. Auch wenn wir die Ungerechtigkeit oder die Klimadrohung verstehen, spüren die meisten von uns dies nicht, weil wir es nicht wirklich erlebt haben. Noch. Es scheint alles zu abstrakt für unser menschliches Gehirn zu sein.

Yiran Zhao, du schreibst in der Ankündigung, dass du beim Publikum eine Reflexion ihrer Beziehungen sowohl zu anderen Menschen als auch zur Umwelt hervorrufen möchtest. Wie wirst du dabei vorgehen?

Ohne zu viel von der Erzählung preiszugeben, präsentiert das Stück einen Tag aus verschiedenen Perspektiven, die sich überschneiden und entfalten, während sie sich gegenseitig abprallen, sich verflechten, interagieren, entwickeln. Ich denke, (zuerst) sehen die Menschen ihre Welt oft mit ihren eigenen Augen, betrachten die Ereignisse um sie herum als Teil ihrer eigenen Lebenserzählung und (zweitens) filtern viele der einfachen, alltäglichen Dinge heraus, die sie tun, oder andere Leben. Erzählungen, die nicht zu ihren eigenen gehören. Ich versuche unter anderem, dieselben (oder ähnliche) Ereignisse in mehreren verschiedenen Ansichten darzustellen, aber auch einige dieser Hintergrundaktivitäten wieder in unser Bewusstsein zu rücken. Wir sprechen oft über die Idee des "sich erweiternden Kreises", der Soziologie, die Idee, immer mehr Menschen (und andere Lebewesen) in das einzuschließen, was wir meinen, wenn wir "uns" sagen und "ihnen" ablehnen.

Aber eines der Dinge, die ich mit diesem Stück tun möchte, ist, diese Idee vollständig aufzulösen. Ich möchte "Zivilisation" nicht unter eigenen Bedingungen und Prämissen herausfordern, sondern andere Ansichten unserer täglichen Erfahrung zeigen, die vielleicht die Frage aufwerfen, ob "Zivilisation" selbst als Konzept überhaupt existiert. "Empathie" bedeutet, die Welt aus der Perspektive eines anderen zu betrachten und zu versuchen, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Ich möchte zeigen, wie eine einzelne Person eine ganze Welt unterschiedlicher Erfahrungen beinhalten kann und wie all die Dinge, die wir tun oder an die wir uns erinnern oder an denen wir vorbeigehen, ohne es zu bemerken, Teil eines viel größeren Universums sind.

Malte Giesen, du interessierst dich für Rahmungen. Meinst du damit auch sogenanntes political framing und sind Phänomene wie zum Beispiel Fake News Teil deines Stücks?

Mein Interesse am Framing kam eigentlich eher aus der Kunst, also (Bilder-)Rahmen oder generell, Kontextualisierungen und deren Funktion. Darum geht es auch in Alberto Cevolinis Text, der die Grundlagen meines Stücks bildet. Im Englischen ist die Doppelbedeutung von Framing aber interessanter, eben einerseits das Einrahmen, aber auch die Art der Einbettung von Nachrichten in einen bestimmten Kontext durch bestimmte Formulierungen. Darüber hinaus bedeutet to frame auch, jemanden hereinlegen.

Die (tages-)politische Komponente war für mich also eher zweitrangig, auch wegen meines Misstrauens gegenüber tagesaktueller politischer Kunst, bei der ästhetischen Mittel schnell zum billigen Vehikel der Message werden. Wie man ja in den letzten Jahren feststellen konnte, zählt in einer öffentlichen Debatte nicht mehr oder nicht vorrangig die Rationalität und Logik der Argumente, sondern die Gefühlsebene spielt eine viel größere Rolle. Da kann die Kunst mit ihren Mitteln der unmittelbar ästhetischen Erfahrung wieder anknüpfen. In meinem Stück geht es in Bezug auf politische Aspekte eher um die Selbst-Rahmung, oder Selbst-Inszenierung in sozialen Medien, daher auch der Titel: 

Der white border Effekt ist einer der am häufigsten verwendeten Rahmeneffekten in Instagram und ist in diesem Sinne eigenartig widersprüchlich: Er ist im Grunde unsichtbar, der eigentlich weiße Hintergrund des html-Dokuments (früher mal: Papier), die kleine Lücke zwischen den stylischen Fotos, wie um zu betonen, was diese Bilder entgegen aller inhaltlichen Behauptung (Authentizität, Spontaneität, etc.) sind: Inszenierung.

Natalia Domínguez Rangel, du schreibst, dass du von oftmals unsichtbaren Strukturen der politischen Macht fasziniert bist. Was genau meinst du mit diesen unsichtbaren Strukturen?

Für [den französischen Philosophen Michel] Foucault wird die wahre Macht immer von der Unwissenheit seiner Agent_innen abhängen. Kein einzelner Mensch, keine Gruppe oder ein_e einzelne_r Akteur_in führt das Dispositiv (Maschine oder Gerät) aus, aber die Energie wird so effizient und leise wie möglich über das Gerät verteilt, um sicherzustellen, dass seine Agent_innen alles Notwendige tun.

Politische Macht wird auf die_den Einzelne_n so ausgeübt, dass sie_er gezwungen ist, Gesetze und Regeln selbstständig zu befolgen - ohne diesen Beweis von Gewalt.

Ich mag diese Idee der Unsichtbarkeit. Eine zu Grunde liegende Macht, unsichtbar und effektiv (gut oder schlecht). Was wir hören, was uns gesagt wird, was sie wollen, dass wir hören und was wir hören wollen.

Die Kraft, auf hoher Lautstärke zu liegen, aufeinanderfolgend, schnell und sich wiederholend. Kein Bekenntnis zur Realität und kein Bekenntnis zur Beständigkeit. Diese Art von Kraft, die ihre Kraft nicht zeigt. Macht ist definiert als eine Möglichkeit, andere zu beeinflussen. Und die Vielzahl von Power-Taktiken, um Menschen zu bestimmten Aktionen zu bewegen oder aufzufordern.

In ihrem einführenden Text, den Gable Roelofsen & Romy Roelofsen für das Programmheft in Stuttgart, wo die 2019 die Uraufführung stattgefunden hat, geschrieben haben, geben sie vertiefenden Einblick in den Kontext der vier Stücke und deren Gesamtinszenierung als Musiktheaterstück:

Mit ihren Kompositionen reagieren sie auf Themen, die sie für die aktuelle Situation unserer westlichen Gesellschaften als relevant erachten, und auf Fragen: Inwiefern müssen wir unser Selbstbild  kritisch überdenken? Welche Lügen haben wir uns über uns selbst erzählt?
Die Komponist_iinnen haben jeweils eine zivilisatorische „Lüge“ ausgewählt und diese in eine Komposition übersetzt, die ihre eigene Handschrift trägt. Wo die eine Komposition eher abstrakt bleibt, wird die andere sehr explizit, sehr konkret. Het Geluid bringt diese unterschiedlichen Positionen und Sichtweisen in einem dynamischen Musiktheater-Projekt zusammen mit dem Ziel, die traditionellen Musiktheater-Konzert-Codes aufzubrechen, indem diese vier Arbeiten im klassischen Museumsraum der Moderne, dem White Cube platziert werden. Denn ein solcher Ort ist perfekt geeignet, die materiellen und immateriellen Zeugnisse der Menschheit und ihrer Um-Welt zu sammeln, sie zu speichern, zu untersuchen, zu befragen und sie auszustellen. Nicht zuletzt ist der White Cube ja auch der Ort, an dem die (westliche) Welt ihr Bild von sich selbst überdenkt, sich sozusagen einen mentalen Raum schafft, der zum Nachdenken einlädt und auffordert. Andererseits ist das Museum auch ein Ort, an dem oft versucht wird, ob bewusst oder unbewusst, Geschichte neu zu schreiben und die Besucher_innen/Zuschauer_innen zu manipulieren.
Einst stand das Museum so wie auch der Konzertsaal oder die Oper an der Spitze der „Kulturpyramide“. Doch die Welt, in der wir heute leben, ist offenkundig immer weniger hierarchisch geordnet und es finden zunehmend neue Erzählungen und Erzählformen sowie neue unbekannte Stimmen Eingang in den kulturellen Kanon. Nicht zuletzt dank der Erfindung des Internets haben früher marginalisierte Gruppierungen mittlerweile eine starke Stimme im kulturellen System. Das bedeutet natürlich auch, dass Lügen oder fake news schneller in Umlauf gebracht werden können, allerdings können diese auch schneller wieder verschwinden.
Die Gewissheiten, die einst in Archiven, Sammlungen oder Enzyklopädien als klare, unumstößliche Fakten präsentiert wurden, werden heute vollkommen neu geschrieben von vielen anonymen Autoren auf Wikipedia-
Seiten oder in anderen offenen Netzwerken. Daher müssen wir auch die bestehenden Ordnungen, Hierarchien und Kulturtechniken kritisch neu überdenken. Was einst als unumstritten und unzweifelhaft bestätigt galt, wird nun zunehmend kritisch hinterfragt. Die Hegemonie des Vergangenen ist zwar immer noch in Kraft, beginnt aber Risse zu zeigen. Die neutrale, scheinbar objektive und eindeutige „Stimme“ verliert an Bedeutung.
Die allumfassenden hierarchischen Werte der Vergangenheit sind heute nur ein Teil von vielen subjektiven Perspektiven. Daher ist es die Aufgabe von Kunst und Musik, sich ihrer Fähigkeiten und Traditionen noch
stärker bewusst zu werden und die eigenen Codes und Ausdrucksformen kritischer zu nutzen. Aktuell befindet sich dieser Prozess irgendwo im Transit-Raum.
Wir wissen, dass der White Cube heute nicht mehr der Gipfel der Neutralität ist. Deshalb sind die Werke in unserem weißen Museumsraum noch immer recht befüllt und warten darauf, enthüllt zu werden. Sie symbolisieren damit also eher einen Übergang, eine Übergangszeit. Diese Kulisse scheint uns aber der adäquate Hintergrund für die vier komponierten Perspektiven in der Musiktheateraufführung „Lies of
Civilization“ zu sein.
Die vier internationalen Nachwuchskomponist_innen beziehen sich in ihren Arbeiten auf alte und zeitgenössische Dämonen der westlichen Gesellschaft und zeigen, dass alle aktuellen Formensprachen sowohl von einer gemeinsamen Geschichte als auch von der aktuellen Verwirrung der Gegenwart durchdrungen sind. Mit „Lies of Civilization“ fügen wir diese Perspektiven dem bestehenden kulturellen Archiv hinzu und laden die Zuschauer_innen dazu ein, eine eigene Position einzunehmen.
Über allem steht für uns die Frage: Versuchen wir mit unserer Arbeit, alte Ordnungen mit neuen Mitteln wiederherzustellen, oder wollen wir ständig den Blick erweitern und neue Ordnungen erschaffen?

Gable Roelofsen & Romy Roelofsen
Het Geluid Maastricht
aus dem Englischen übersetzt von Annette Eckerle

Lies of Civilization

Freitag, 13. September 2019, 19:00 Uhr, Projektraum
Samstag, 14. September 2019, 19:00 Uhr, Projektraum

Die Interventionen finden im Rahmen der MUSIKTHEATERTAGE WIEN 2019 statt. 
Mehr Informationen finden Sie hier

Fr 10. / Sa 11. / So 12. Jan | 19:30 Uhr

Saal

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Fr 17. / Sa 18. Jan | 19:30 Uhr

Saal

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Do 13. / Fr 14. / Sa 15. Feb | 19:30 Uhr

Saal

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Mi 19. / Do 20. / Fr 21. Feb | 19:30 Uhr

Saal

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