Von der Leichtigkeit des Stahls

Foto: Gisela Erlacher

Von der Leichtigkeit des Stahls

Zur Text-Skulptur von Karl-Heinz Ströhle

Die Text-Skulptur für die pädagogische Hochschule Niederösterreich war die einzige Textarbeit im Œuvre des 1957 in Bregenz geborenen und 2016 unerwartet verstorbenen Objekt- und Performancekünstlers und die letzte Arbeit aus seinem Atelier im WUK.

Karl-Heinz Ströhle schätzte und liebte das Material der Stahlbänder, das er zur Grundlage seiner Gemälde machte, die er in einer Frottagetechnik herstellte, und das er vor allem zu skulpturalen Gebilden band und bündelte, die er manchmal mit Tänzer_innen in Performances belebte.

Es mutet geradezu eigenartig an, dass seine Text-Skulptur für die pädagogische Hochschule Niederösterreich in Baden die einzige Textarbeit im Œuvre des 1957 in Bregenz geborenen und 2016 unerwartet verstorbenen Objekt- und Performancekünstlers, Zeichners und Malers ist. Karl-Heinz Ströhle gewann 2015 mit seinem Konzept, einen Vers aus Erich Kästners Gedicht „Ein alter Mann geht vorüber“ in Buchstaben aus Stahlbändern auf die kreisförmige Öffnung des Campusdaches zu setzen, einen geladenen Wettbewerb.

ICH KOENNTE EUCH VERSCHIEDENES ERZAEHLEN, WAS NICHT IN EUREN LESEBUECHERN STEHT, GESCHICHTEN, WELCHE IM GESCHICHTSBUCH FEHLEN, SIND IMMER DIE, UM DIE SICH ALLES DREHT

Diese Worte ragen entlang dem schmalen Abschluss einer kreisförmigen Dachkonstruktion rundum gegen den Himmel. Das Werk wurde im Sommer 2018 nach seinen präzisen Angaben und Skizzen realisiert.

Karl-Heinz Ströhles Lebensgefährtin, die Schriftstellerin Sabine Gruber, hatte den Künstler auf den Vers Kästners aufmerksam gemacht – eine brillante Anregung, die Ströhle zu diesem außerordentlichen Werk führte. Es bot ihm nicht zuletzt die Möglichkeit, die speziellen Qualitäten seines präferierten Materials, seiner über Jahre entwickelten Technik und der ihm eigenen Methode in tiefgründigem Einklang mit dem Gehalt der Aussage und der Bestimmung des Ortes zu entfalten.

Foto: Gisela Erlacher

Erich Kästner verfasste das Gedicht zwischen 1933 und 1945, als seine Werke auf der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums" der Nationalsozialisten standen und über ihn Schreibverbot verhängt worden war. Ein historischer Hintergrund, der das ganze Gedicht, vor allem aber diesen Vers, autobiografisch lesbar sowie politisch zeitlos brisant macht. An der pädagogischen Hochschule, die Lehrerinnen und Lehrer ausbildet, hat dieser Vers doppelte Signifikanz. Er führt den Studierenden und insbesondere den Lehrenden klar und eindringlich vor Augen, dass das, was das Leben lehrt, die Geschichten der Alten, über jenes, was im Unterricht vermittelt werden kann, hinausweist. Nun ist dieses Zitat zu einer Insignie des Gebäudes geworden, das über das Schulgelände hinaus öffentlich sichtbar ist. Mit hintergründiger Klarheit verleiht der Schriftzug der kargen Askese der Betonmauern aparten Charme und reißt die Härte der architektonischen Konturen und ihres Schattenwurfs auf. Einerseits unterläuft das Werk formal wie inhaltlich die Autorität der Schuleinrichtung, es dreht sich über ihr fast frivol im Kreis, andererseits baut es wie auf einem Sockel skulptural auf ihr auf und krönt sie – diese doppelbödig überhöhend.

Foto: Gisela Erlacher

Das gebogene Federstahlband zeigt sich gegenüber taktilem Einwirken flexibel und geschmeidig, und strebt doch immer wieder in seinen Ausgangszustand zurück. Ein Stillstand tritt kaum ein. Die von Karl-Heinz Ströhle in Stahl transferierten Worte Erich Kästners halten Wind und Wetter stand - und in erweitertem vieldeutigen Sinn jeder widersächlichen Umgebung. Sie setzen sich darüber hinweg und nutzen vielmehr die äußeren Einflüsse als Potenzial für sich selbst und ihren intensivierten Auftritt. Die Buchstaben vollführen im Wind als transparente Volumen durch die Spannung und den Widerstand ihres Materials ein Wackeln und Zittern, das sie in tänzerische Rhythmen versetzt. Das von Ströhle gern und lustvoll betriebene Wechselspiel zwischen seinen Stahlbandskulpturen und den sich darin bewegenden Tänzern wird an der Text-Skulptur in Baden durch die natürlichen Luftströmungen aktiviert. Umso mehr erscheint das Werk von eigenem Willen durchdrungen und eigensinnig zu handeln.
Das dialogische Verhältnis zwischen Werk und Natur erzeugt auch ein Aufblitzen des Stahls im Sonnenschein. Die Reflexionen dynamisieren das skulpturale Wort, das in einem glitzernden Gleiten die Aufmerksamkeit auf sich zieht, als wollte es die BetrachterInnen in das Schau- und Gedankenspiel miteinbeziehen.

Das schwingende Material der Federstahlbänder ist von einer autopoetischen Leichtigkeit, die sich gegenüber der strengen Schlichtheit des Betons, der gesetzten Bestimmtheit des Gebäudes und seines geordneten didaktischen Gewichts autark präsentiert und bewegt sich in schwebender Balance in unvorhersehbarem Wandel zwischen träumerischem Wogen und vergnügtem Wippen spielerisch im Wind. Als pulsierende Linie führt das Geschriebene ein vibrierendes Dasein, oszillierend zwischen den Befindlichkeiten von Linie und Körper. Die Buchstaben wiegen und verändern sich in schlichter Eleganz mit der Flüchtigkeit des Luftstroms und wirken je nach Blickwinkel körperhaft präsent oder von filigraner Transparenz, die mit der Weite des Himmels verschmilzt, die Essenz von Erich Kästners Zitat glänzend versinnbildlicht und in eine poetische Transzendenz erhöht.

Margareta Sandhofer,
Kuratorin, Autorin und Kunstvermittlerin in Wien

Seit den 80er Jahren war Karl-Heinz Ströhle im WUK aktiv. Neben seiner eigenen künstlerischen Arbeit war er viele Jahre im WUK-Vorstand sowie Mitglied im Beirat der Kunsthalle Exnergasse. In diesen und anderen Funktionen gestaltete er wesentlich das WUK mit.

Die Text-Skulptur für die Pädagogische Hochschule Niederösterreich in Baden entstand als Kunst & Bauprojekt der Bundesimmobiliengesellschaft. Es war das letzte Projekt von Karl-Heinz Ströhle, an dessen praktischer Umsetzung er bis zu seinem unerwarteten Tod  im Sommer 2016 gearbeitet hat. Schon während der Entwicklungs- und Experimentalphase hat Karl-Heinz eng mit der Werkstatt für Produktgestaltung im WUK (Eva Eisenbacher und Cornelius Purkert) kooperiert, die schlussendlich auch mit der Fertigstellung der Arbeit diesen Sommer betraut wurde.