Trans Europa Express
Europa. Morgens ein Rendezvous auf den Pariser Champs-Élysées, abends in ein Wiener Nachtcafé, davon sangen Kraftwerk vor fast 40 Jahren über dem treibenden Rumpeln und Rattern eines Drumcomputers. „Trans Europa Express“ wurde für Hip Hop und Techno enorm einflussreich, gleichzeitig war es eine Ode an das moderne und vereinte Europa. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs konnte man den Wind des Wandels endlich auch in Österreich spüren. Die neue Schrankenlosigkeit kam für Kruder & Dorfmeister, Ilsa Gold, Electric Indigo, Fennesz, die Sofa Surfers oder Waldeck gerade recht. Sie machten Wien wieder zu einer Weltstadt der Musik. Und heute gibt es sie erneut, aufregende Töne von Soap&Skin und Klangkarussell, von Elektro Guzzi, HVOB oder Dorian Concept. Sie reisen weit über die Landesgrenzen hinaus, um dort manchmal vor tausenden Menschen live zu spielen. Aber auch umgekehrt kommt Musik aus allen Ecken Europas hier her, da wo Osten und Westen sich kreuzen, die man früher nur schwer zu Ohren bekommen hätte.
Europa. Da wurden einmal Augen feucht. Als die Grenzbalken noch bleiern waren und fast nur deutsche Touristen in Tirol, Salzburg und Wien ihr Geld ausgaben, erhoffte man sich davon dauerhaften Frieden. Vielleicht auch Brüderlichkeit und Freiheit. Um nichts weniger ging es. Man wollte in dieses Europa hinein. Heute ist das komplizierter. Märchen von Gurkenverordnungen oder gestohlenem Trinkwasser waren in den Schlagzeilen. Ein bürokratisches Monster sei dieses Brüssel, in dem es mehr um Konzerne und Banken statt um die Menschen gehe. Die Flüchtlingskrise wurde bis heute nicht gemeinsam geregelt. Man weiß noch immer nicht, ob es für uns künftig mehr oder weniger Europa geben soll. Und viele Menschen in England, Polen oder Ungarn wollen ein paar gemeinsame Grundregeln gleich ganz über Bord werfen. Keine Frage, Europa hatte schon einmal mehr Verehrer.
Eine europäische Idee feiern
Was da ein kleines, eintägiges Festival ausrichten kann? Nun, eine gute Zeit für ein paar Stunden und sonst erst mal wenig. Denn wie viele „alles verändernde Konzerte“ kann man in einem Leben schon sehen? Das Europavox ist allerdings kein Festival, das nur gut gemeint ist. Seit mittlerweile zehn Jahren arbeitet man dort an einer Idee. Europa soll mehr sein als freier Handel, billig telefonieren und gemeinsames Geld. Es war klar, dass man dem Schreckgespenst der Globalisierung keine homogene, europäische Kultur gegenüberstellen konnte, denn dafür hat der Kontinent zu viele Sprachen, zu viele Melodien und Klangfarben, die von mehr Leuten gehört werden sollten. Seit zehn Jahren kommen deshalb im Mai Menschen nach Clermont-Ferrand, Heimat des französischen Ex-Präsidenten und unermüdlichen Europäers Valéry Giscard d'Estaing, um die Vielfalt zu feiern. Um sich mehrere Tage lang ganz unterschiedliche Töne und Rhythmen aus Litauen, Lissabon, Famagusta oder vom finnischen Meerbusen anzuhören.
Dieses Jahr waren es alleine 21 Länder. Das Lineup liest sich manchmal wie der neue Katalog eines Möbelkonzerns, mit Namen wie Ksiopai und All Tvvins. Ein europäisches Partnersystem sorgt dafür, dass hier neben einigen echten Stars die größten Nachwuchshoffnungen jedes Landes auftreten. Manche bleiben Hoffnungen, andere werden tatsächlich zum Nachwuchs. Sie sollen am Festival lernen, wie sie von ihrer Leidenschaft leben können. Denn Musik ist nicht nur ein nett anzuhörendes Spiel mit Identitäten und Rollen, sondern auch ein echtes Business. Beim Europavox wird also auch an europäischer Soft Power gearbeitet.
Klar, dass man dem Rest der Union etwas davon zeigen will. Im November macht das Festival erstmals Station in Wien. Sieben Locations haben sich für das Europavox Project, so der offizielle Name des Ablegers, zusammengeschlossen. Darunter das Wiener WUK, das gerade erst zur neuen Zentrale des Waves Vienna Festivals wurde. Auch das Waves bringt seit Jahren Musikbegeisterte aus Ost und West in Wien zusammen, um hier Acts, Apps und Partner zu entdecken. Neben dem WUK gehört auch das Botanique in Brüssel zum Europavox Project. In einer ehemaligen Orangerie gelegen, bereichert es die graue und gerade auch schwer verunsicherte Stadt enorm. In fast keiner Location der Welt hängt so viel beeindruckendes Licht. Hier kann man spüren, sehen und staunen, wie viel Unterschied eine gute Lichtführung für eine Show ausmachen kann. Promoter aus Kroatien, Litauen, Griechenland und Italien sind ebenfalls beim Europavox Project dabei.
Wenn nun die Steaming Satellites ins WUK kommen, ist normalerweise sowieso ausverkauft. Die fünf Salzburger klingen manchmal so, als würden sie die heimlichen Hauptrollen in einem grimmigen Alpenwestern voll Rache, Mord und Inzucht spielen. Da trifft es sich, dass sie den zentralen Song von Andreas Prohaskas fantastischem Film „Das finstere Tal“ beigesteuert haben. Der Showdown im Schnee mit blutigen Bärten, Tobias Moretti gegen Sam Riley, dazu ihr „How Dare You“, das ist immer noch eine der bemerkenswertesten Szenen österreichischen Kinos.
Stefan Niederwieser ist Chefredakteur des Kulturmagazins The Gap, derzeit karenziert. Schreibt auch für NEWS, Wiener Zeitung, Trend aus der Club-, Kultur- und Pop-Blase.
Europavox Project 2016
Die französische Stadt Clermont-Ferrand kann sich vieler Dinge rühmen. Sie ist der Geburtsort von Blaise Pascal (Pensées) und Audrey Tautou (Amélie), obendrein aber auch die Heimat des seit 2006 bestehenden Europavox-Festivals, das sich der Förderung musikalischer Vielfalt in Europa widmet.
Sieben Veranstaltungsstätten aus ganz Europa – darunter auch das Wiener WUK, sind mit kleineren Satellitenfestivals, die das in Clermont-Ferrand begonnene Projekt in andere europäische Städte tragen, „Winner of the 2016 Culture Creative Europe Programme“.
Am 4. November findet das Kickoff-Festival im WUK statt. Hier werden sich Wrongonyou (IT), Olivier Heim (PL) und Steaming Satellites (AT) die Bühne teilen.
Europavox Project
Steaming Satellites (AT), Wrongonyou (IT), Olivier Heim (PL)
Fr 4.11., 20 Uhr, Saal