Was zur Hölle ist das?! Was schauen wir uns da gerade an?

Was zur Hölle ist das?! Was schauen wir uns da gerade an?

Nadja und Martin Brachvogel, Gründer_innen von "Follow The Rabbit", über ihr neues Stück SHOOT'N'SHOUT.

***
Interview: Saskia Schlichting

Ich beginne gerne ein Interview mit einem Spiel:
Fällt ein bestimmter Begriff, so muss etwas konsumiert werden. Unser gemeinsamer Begriff ist Gewalt. Ich habe Schwedenbomben mitgebracht. Was ist eure erste Assoziation dazu?


Martin: Magenschmerzen.
Nadja: Lecker!

Bitte, welche esst ihr lieber - mit Kokos oder ohne?

N: Mit! Mit!
M: Unbedingt ohne!

Aber nun zur eurem neuen Stück, eine Zusammenarbeit mit dem deutschen Autor Sergej Gössner. „Shoot´n´Shout" ist ein Auftragswerk in Kooperation mit zwei deutschen Bühnen und dem Next Liberty in Graz und geht - wie nach eurer letzten Jugendproduktion "Kohlhaas – Moral High Ground" (UA 2022 im WUK) erneut der Frage nach, was Gewalt alles sein kann. Wie kam es dazu?
 

N: Wir finden, Sergej ist ein großartiger Autor und wollten schon lange was mit ihm machen. Zum Staatstheater Wiesbaden hat sich der Kontakt durch ein Gastspiel unserer Inszenierung von Sergejs Stück "MONGOS" hergestellt. Wir haben uns mit dem Leiter vom dortigen Jungen Staatstheater, Dirk Schirdewahn, sehr gut verstanden. Und da Sergej und Dirk gut befreundet sind, fanden wir die Idee toll, mit beiden ein Stück auf die Beine zu stellen.

M:  Beide waren sehr angetan von der Idee. Die gegenseitige Wertschätzung ist sehr groß, was für uns eine wichtige Voraussetzung für ein gutes Gelingen darstellt. Als zusätzliche Kooperationspartner konnten wir das Apollotheater in Siegen und das Next Liberty in Graz gewinnen, was uns sehr gefreut hat, denn damit war die Finanzierung für dieses Projekt gesichert. 

M: Genau! Wir kamen darauf, dass Gewalt an sich nicht falsch sein muss. Es gibt Situationen, in denen man sich verteidigen muss, und notfalls auch mit Gewalt. 

N: Gleichzeitig gibt es oft Gewalt, die nicht sein muss. 

M: Ja, es ist also wie immer echt kompliziert. Und gerade deshalb wollten wir uns das näher anschauen – in Form eines Theaterstücks.

N: Ja, und wir hatten gerade angefangen, mit Dirk und Sergej über ein mögliches Thema des Stückes zu reden, da begann Putin seinen Angriffskrieg auf die Ukraine, und wir hatten das Bedürfnis, darauf zu reagieren. 

M: Bald kam das Gespräch auf den Pazifismus. 

In diesem Stück geht es um einen bestimmten Moment, in dem wir zu jemanden werden, der wir nicht sein wollen: einem gewalttätigen Menschen. Der Ursprung dieses Stückes hatte einen konkreten Anlass  - den Beginn des Krieges in der Ukraine. Wie seid ihr mit dieser emotionalen Thematik umgegangen und wie hat sie den kreativen Prozess beeinflusst?

M: Es war uns allen sofort klar, dass wir kein Stück über Krieg machen werden. Man kann Krieg im Theater nicht nachvollziehbar darstellen. Außerdem hat keine_r der Beteiligten irgendwelche Kriegserfahrungen. 

N: Zum Glück nicht!

M: Oh ja! Und 99% des Publikums geht es auch so, und da haben wir uns gedacht: Wo holen wir die ab? Und so haben wir uns für das Thema “Gewalt im Alltag” entschieden. Damit können alle was anfangen.

Die Inszenierung nimmt richtig Fahrt auf mit der Hummel Geschichte. Was hat es mit diesem kleinen Insekt auf sich und warum habt ihr euch dafür entschieden, diese spezifische Geschichte zu erzählen?

N: Das musst du den Autor fragen!
M: Der leider nicht da ist! (lacht)

N: Ich würde erstmal gern sagen, worum es in der Hummel-Geschichte geht, und das ist auf den ersten Blick einfach: Im Sommer steigt ein barfüßiger Junge auf eine Hummel und wird von ihr gestochen. Diese Geschichte wird mehrmals erzählt. Zuerst scheint das versehentlich zu passieren, der Junge ist also Opfer. In anderen Versionen aber steigt der Junge absichtlich drauf und wird zum Täter. Von außen betrachtet ändert sich aber nichts am Geschehen.

M: Und für mich ist die Hummel die perfekte Wahl. Die Hummel gilt als lieb, fleißig, süß, harmlos, aber wenn es unbedingt sein muss, kann sie einem auch ganz schön weh tun.

Gewalt steht im Zentrum des Stücks, jedoch weniger in physischer Form, sondern eher verbal. Und es behandelt auch eigene Erfahrungen der Schauspieler_innen. Welche verschiedenen Ebenen gibt es im Stück?

N: Es gibt eine Menge Ebenen bei “Shoot’n’Shout”.
M: Ja, das ist wie bei Inception!

N: Es gibt die Ebene der Spieler_innen, wo sie sich über das Stück unterhalten, es gibt die Hummel-Ebene, es gibt eine Ebene, wo sie Sätze zu Gewalterfahrungen aussprechen...

M: Da sind viele Original-Zitate der Spielenden und auch von uns dabei, aus Gesprächen über unsere Gewalterfahrungen. 

N: Dann gibt’s noch die Ebene mit einer Talk-Show, in der Expert_innen für und gegen den Hummelstachel streiten. Und dann haben auch noch jede Spielerin und jeder Spieler einen Monolog, der sich inhaltlich vom Rest unterscheidet.

M: (lacht) Ja, es ist ein wilder Ritt!

Jede 3. Frau in Österreich – so eine aktuelle Studie – ist von Gewalt betroffen. Die Entscheidung, das Thema Gewalt in Bezug auf Frauen auszusparen, wirft Fragen auf. Gibt es einen bestimmten Grund dafür?

N: Ja, das Thema haben wir bewusst ausgeklammert. Da gehört ja auch Vergewaltigung dazu. Das lässt sich nicht einfach so einbinden, für das Thema braucht es ein eigenes Stück.

M: So relevant das Thema Gewalt gegen Frauen auch ist, wir haben uns dafür entschieden, Gewalt an sich zu thematisieren, die Mechanismen.

Die Botschaft an das jugendliche Publikum ist sehr einladend und respektvoll:

"Relax! Enjoy! Du wirst hier nicht geprüft! Du musst hier nichts verstehen! Wir wissen hier nichts besser als ihr! Ja, das Ganze ist ziemlich weird, aber schau es dir bitte ersteinmal an, bevor du ein Urteil fällst. Danach können wir immer noch reden."

Wie haben die Jugendlichen auf die Inszenierung reagiert, und welche Rückmeldungen habt ihr erhalten?

N: “Shoot’n’Shout” hatte erst zwei Vorstellungen. In der ersten, der Uraufführung, saßen zu zwei Dritteln Jugendliche im Publikum. Da gab’s eine Gruppe von Jugendlichen – vielleicht sechs, sieben Buben –, die null eingestiegen sind und nichts vom Stück wissen wollten. Keine Ahnung, ob aus Prinzip oder wegen dem Stück. 

M: Abgesehen von dieser Gruppe haben die meisten anderen so reagiert, wie ich es mir gewünscht habe: Schon unterhalten, aber auch total irritiert.

N: In der zweiten Vorstellung waren dann nur noch Jugendliche -

M: - und da war’s dann noch extremer.

N: Ja, es war eine Stimmung, wie: “Was zur Hölle ist das?! Was schauen wir uns da gerade an?” Und gleichzeitig wollten sie sich das auch anschauen und waren sehr gut dabei.

Das waren jetzt eine Menge Schwedenbomben. Ich hoffe, niemand hat Bauchschmerzen....

N: Ach quatsch!
M: Noch nicht!

Danke für das Gespräch.

N: Gerne!
M: Danke auch!

"Follow the Rabbit" - benannt nach dem hakenschlagenden Hasen, der Alice ins Wunderland führt – hat seit seiner Gründung 2004 seinen Theaterbegriff fortwährend erweitert, hin zu einem interdisziplinären Kunstbegriff. Ihre Produktionen wurden mehrfach mit dem STELLA, Preis für herausragende Leistungen im Theater für junges Publikum, ausgezeichnet.

Follow The Rabbit


 

 

v.l. Johanna Martin, Jonas Werling, Sofia Falzberger, Nuri Yildiz

SHOOT'N'SHOUT (14+) - Follow The Rabbit

Preis

€ 12 | 10 | 6,5

Ort

Saal

Follow The Rabbit

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