Die Stadt ist ein Gefühl

Shantel (c) Harald H. Schroeder

Die Stadt ist ein Gefühl

Shantel macht sich anlässlich des 40. WUK-Geburtstags Gedanken zum Thema Utopie

Damit aus unseren europäischen Metropolen keine öden Themenparks werden, müssen wir jetzt radikal gegensteuern.

Utopie – Vor 40 Jahren war die Idee des Werkstätten- und Kulturhauses ein utopischer Gedanke. Wie hat sich diese Utopie in den vergangenen Jahrzehnten verändert und wie kann eine WUK-Utopie der Zukunft aussehen? Mehr noch: Was bedeutet Utopie in den unterschiedlichsten Facetten von Kunst, Kultur, Bildung, Beratung und den vielen anderen Tätigkeitsfeldern, die das WUK in sich versammelt? Wir schaffen im WUK-Jubiläumsjahr 2021 Platz für utopische Gedanken.

An dieser Stelle macht sich der Kosmopolit Shantel Gedanken zur Zukunft der Städte.

Meine Großeltern hatten eine Vision. Sie wollten nach Westen, nach Amerika. Diesen Traum verfolgten sie schon in Czernowitz, der ehemaligen Hauptstadt der Bukowina. Heute liegt diese Gegend in der Ukraine und in Rumänien. Die östliche Grenze Kontinental-Europas. Wenn mein Großvater damals nach einigen Gläsern selbstgebrannter Zuica sentimental wurde, dann bezeichnete er Czernowitz immer gerne als "der Tuches (Jiddisch für Hintern) Europas". Sie waren Überlebende einer untergegangenen, scheinbar pluralistischen und kosmopolitischen Kultur. Sie hatten keine geographische Heimat mehr. Entwurzelte, geflüchtete, überlebende Menschen und tief in ihrer Seele gebrochene Europäer. Staatenlos zu sein war ein Stigma. Auf ihrem langen und beschwerlichen Weg nach Westen machten sie erst einmal Halt in Wien. Warum Wien weiß ich bis heute nicht ganz genau, aber auf Wien konnte sich meine weitverzweigte und damals völlig mittellose Familie kurzfristig ganz gut einigen.

Für mich waren die utopischen Gedanken meiner Großeltern wie ein lästiger Schnupfen, den man nie loswird. Es ist eine Haltung, die einen dazu verdammt, das Glück immer in der Ferne zu suchen. Das Glück ist unsere Mutter, das Scheitern unser Erzieher. Träume, Wünsche und Hoffnungen verknüpfen sich mit imaginären Orten der Sehnsucht und am Ende landet man doch wieder in Wien oder in Frankfurt am Main. Machen wir das Beste daraus. Für mich war dieses Gefühl der inneren Unruhe immer sehr schöpferisch. Was wir im wirklichen Leben nicht haben, das Erfinden wir uns einfach, eine Haltung wie das ewige Stimmen eines Orchesters. Immer schön schräg bleiben, unberechenbar.

Mein derzeitiger und pandemiebedingter Lebensmittelpunkt ist Frankfurt am Main. Wien und Frankfurt am Main haben, mal abgesehen von einer sehr bemühten Kunst- und Kultur-Szene, fast keine Gemeinsamkeiten.

"Was Deutschland und Österreich trennt, ist die gemeinsame Sprache." (Karl Kraus)

Berlin, Frankfurt und Wien als kosmopolitische Teilchenbeschleuniger. Was uns eint ist das Permanente und das penetrante Provinzielle. Berlin ist eine einzige Versuchsanordnung von Menschen aus der Provinz. Urbanität ist heute nicht mehr revolutionär genug, weil die geistige und prosperierende Elite aufs Land abwandert. Stadtflucht als Lebensgefühl? Nicht mit mir! Das ist unsere große urbane Chance und utopische Vision. Die Stadt ist kein Ort, sondern ein Gefühl. Damit aus unseren europäischen Metropolen keine öden Themenparks werden, müssen wir jetzt radikal gegensteuern. Gewohnheiten ändern und ersetzen.

"Man kann die Menschen nicht ändern, man kann nur ihre Gewohnheiten durch andere ersetzen." (Charles de Montesquieu, französischer Philosoph)

Was mich derzeit begeistert, ist Paris' erste Bürgermeisterin Anne Hidalgo. "Die Revolution begann ganz leise", schreibt Britta Sandberg im Spiegel. Anne Hidalgo ließ bis auf Weiteres die Rue de Rivoli für Autos sperren. Eine zentrale Verkehrsader. Es ist ein bisschen so, als würde man die Fifth Avenue in New York zur autofreien Zone erklären. Autos aus der Stadt verbannen, Parkplätze abschaffen, Fahrrad-Schnellwege sowie Parks ausbauen. So würde man sich in Wien und Frankfurt nicht nur Freunde machen, dass finde ich grundsätzlich sehr gut. "Anne ist eine Kriegerin. Sie hat alle gefickt". So formuliert es durchaus anerkennend in einem Interview mit Vantity Fair Hidalgos schärfste Konkurrentin Rachida Dati, die ehemalige Justizministerin unter Nicolas Sarkozy.

Kultur ist die Grundlage für eine Ethik, auf die eine Stadt und ihre Gesellschaft aufbaut. Kultur ist unser kollektives Gedächtnis und basiert auf gemeinsamen sinnlichen Erfahrungen. Die Welt wird nicht mehr dieselbe sein wie vor Corona. Und spätestens dann lautet die Frage: Wer hat die Deutungshoheit über die Beschaffenheit und Realität von Kultur? Kulturschaffende müssen die Deutungshoheit unbedingt und vehement, sofort und konsequent zurückerobern. Auf allen Ebenen, darin besteht eine schon fast revolutionäre Aufgabe. Kultur als Festival im öffentlichen Raum, wir benötigen eine Versuchsanordnung der besonderen Art.

Die Künstler_innen und ihre Institutionen wie das WUK sind gefragt. Sie müssen sich diese Räume nehmen. Festival-Formate von Frühjahr bis in den Winter. Diesbezüglich müssen wir urban und radikal umdenken. Der lokale Zusammenhang von Kulturschaffenden ist sehr entscheidend. Der Künstler kann Ideen viel schneller aufgreifen und besser formulieren. Er ist ein Seismograf, der die Emotionen der Gesellschaft liest, analysiert, interpretiert und dadurch sichtbar, hörbar und erlebbar, begehbar macht.

Unsere Gesellschaft denkt nach wie vor sehr starsinnig in Kategorien, das Beharren auf kultureller Identität verhindert sozialen Fortschritt. Wir führen eine große Debatte über Migration und Identität, jonglieren dabei mit Begriffen wie Rassismus und Ausgrenzung. Der Diskurs selbst bleibt dabei immer sehr abstrakt und kalt. Wie fühlen die Menschen? Was bewegt und verbindet sie? Fragen, die offen bleiben, weil sie niemand stellt. Schaffen wir einfach den Begriff der "Kulturellen Minderheit" ab. Denn eine Minderheit funktioniert immer dann als Kategorie, wenn eine beherrschende, kontrollierende Mehrheit darauf beharrt. Diese ideologischen Mauern und Grenzen müssen wir einreißen. Das WUK als kulturelles Soziotop der besonderen Art ist der sozial- und kulturpolitische Teilchenbeschleuniger, nach dem sich meine Familie immer gesehnt hat. Eine reale Utopie und geistige Heimat ohne geographische, soziale und kulturelle Grenzen.

Shantel (c) Wonge Bergmann
Shantel (c) Wonge Bergmann

Utopie: Shantel. 

Stefan Hantel tourt als Shantel um den Globus. 2017 kandidierte er als Oberbürgermeister in Frankfurt am Main. Mit dem “Disko Partizani”-Wein ist Shantel nun auch unter die Winzer_innen gegangen.

Am 15. Dezember 2021 kommt er das nächste Mal ins WUK.

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