ROTH:NEU:SIEDL folgt dem Wasser

ROTH:NEU:SIEDL folgt dem Wasser

Zdravko Haderlap ist Artist in Residence der Kunsthalle Exnergasse. Er macht sich Gedanken über die Gestaltung von Zukunftsräumen und welche Rolle dabei das Wasser spielt.

Der Haschahof im Süden Wiens wurde vor ca. 120 Jahren aus roten Backsteinziegeln errichtet und steht seit einigen Jahren leer. Er ist von über 100 ha fruchtbarem Ackerland umgeben, das als künftiges Stadtentwicklungsgebiet für etwa 20.000 Menschen gewidmet ist. Nach einer Podiumsdiskussion mit Anrainer_innen, Wissenschaftler_innen, Studierenden und vielen unterschiedlichen Interessensgruppen sind 2018 der Verein ZukunftsRaum Rothneusiedl sowie die Genossenschaft Zukunftshof eG gegründet worden. Im Juni 2019 folgte der Zuschlag für die Nachnutzung des Haschahofs im Rahmen eines zweistufigen Ideenwettbewerbs. Während die Genossenschaft den Haschahof als „Zukunftshof“ nach dem Prinzip der Kreislaufwirtschaft 25 Jahre lang nutzen wird, ist mit dem Verein eine Basis für bürgerschaftliches Engagement mit Blick auf eine visionäre Stadtentwicklung Rothneusiedls geschaffen worden. Demnach soll laut Eigendefinition des Vereins der „Zukunftshof als identitätsstiftendes Zentrum für den zukünftigen Stadtteil Rothneusiedl etabliert werden.“

Menschliche Zeit versus ökonomische Zeit

Spätestens hier stellt sich die Frage: Welche Rolle spiele im Kontext dieser Überlegungen ich – als einer von der menschlichen Zeit (selbst-)bestimmter „Kulturlandschaftspfleger“, der immer wieder Gefahr läuft, durch die ökonomische Zeit kolonialisiert zu werden? Welchen Beitrag kann ich mit meinen bergbäuerlichen Erfahrungen einbringen, damit das soziale und ökonomische Konstrukt „Stadt“ –  derzeit als Kulminationspunkt beziehungsweise als Verursacher nahezu unlösbarer Probleme –  in einer Kultur der Offenheit, Kooperation und des Ausgleichs gedacht werden kann? Einerseits steht die Stadt für Freiheit, Wohlstand, Demokratie und kulturelle Vielfalt, die vieles zulässt, auch Kritisches und Kontroverses erträgt. Andererseits steht die Stadt, auch aus der Logik des gegenwärtigen Hyper-Kapitalismus, für einen zerstörerischen Moloch, der einen Großteil der in die Stadt strömenden „Glücksritter“ in immer kürzeren Zeitintervallen „schreddert“. Daher stellt sich für die (Zukunfts-) Städte meiner Meinung nach die Grundsatzfrage nach einem tieferen Verständnis für das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt.  Das war von jeher eine zentrale Frage menschlicher Existenz, mit der zunehmenden Zerstörung dieser Umwelt wird die Frage existenziell.

Raumordnung durch Beobachtung

Die Siedler_innen in den Bergen wussten, wo und wie sie ihre Höfe und Dörfer errichten. Etwa auf sogenannten geologischen Fenstern, wo die Erde fruchtbarer war als anderswo. Wie nützt man Felswände, die sich tagsüber durch die Sonne erhitzen und nachts die gespeicherte Wärme wieder abgeben. Durch genaue Beobachtung des Mikroklimas wurde der Anbau von Streuobst und Getreide in Höhenlagen von weit über 1000 Meter Seehöhe möglich. Um den wechselnden klimatischen Verhältnissen im ganzheitlichen Jahreszyklus zu widerstehen, suchte man wind- und wetterbegünstigte Geländemulden oder Lagen, die vom Wald geschützt waren. Der Wald kühlte im Sommer die Wiesen und Felder und schützte im Winter vor Kälte und Lawinen. Wasserquellen wurden nach Möglichkeit dort erschlossen, wo es zwischen unterschiedlichen Gesteinsschichten vermehrt hervortrat. Wenn der „ideale“ Platz gefunden war, richteten sie ihre Gebäude und Innenräume nach der Sonne, nach Wetter- und Windschlagseiten sowie nach Licht und Schatten aus. Jede Arbeit und Verrichtung orientierte sich nach den durch die Jahrhunderte tradierten Erkenntnisse über Mondphasen, Planetenstellung und Tierkreiszeichen.  Ein System, das sich über Jahrhunderte bewährte. Einige dieser Beobachtungen könnten durchaus in die Entwicklung einer klimagerechten Zukunftsstadt einfließen. Wobei sich daraus möglicherweise auch Erkenntnisse für eine bestimmte Raumordnung ableiten lassen.

Leitmotiv Wasser

Demnach haben es die ROTH:NEU:SIEDLer_innen mit ihren herausragenden Ressourcen und Kompetenzen selbst in der Hand, die ökonomische Zeit anzuhalten, um über die Zukunft nachzudenken. Wer erfahren will, was sie bewegen wird, der folge der Spur des Wassers. Der Zusammenhang zwischen einem prosperierenden Lebensraum und der kostbaren Ressource Wasser ist unauflösbar, schicksalshaft. Nicht einmal drei Prozent des Wassers auf unseren Planeten ist Süßwasser. Die Art und Weise, wie wir heute das Wasser kontrollieren, verändert die Welt. Allein das Gewicht des aufgestauten Wassers hinter den Staudämmen der nördlichen Halbkugel bewirkt bereits ein Kippen der Erdachse und beeinflusst die Rotation. Verursacht durch die Agrarindustrie haben bereits 2/3 der größten Flüsse der Welt ihre Verbindung mit dem Meer verloren. Staaten verschaffen sich durch das Anzapfen von unterirdischen Wasserquellen für den industriellen Anbau Zugang zum Wasser anderer Staaten. Für ein Kilo Tomaten aus optimierten klimageregelten Gewächshäusern werden 214 Liter Wasser verbraucht. Somit hat ein Container voll mit Tomaten einen virtuellen Fußabdruck von 7,5 Milliarden Liter Wasserverbrauch, ein Container Baumwollkleidung 65 Milliarden und ein Kaffeebohnencontainer 300 Milliarden Liter Wasserverbrauch. Die Folgen dieses Zustandes sind Dürren und Bodenabsenkungen in vielen Staaten der Erde. Gleichzeitig treibt die Erderwärmung die Trockenheit voran. Schon längst gibt es Dominoeffekte, die zu Hungersnöten, sozialen Unruhen, Kriegen und Flucht führen. Erst wenn diese Zusammenhänge erkannt und ernst genommen werden, wenn Wasser wieder als Lebensmittel, als das Mittel zu leben, und als Leitmotiv allen Lebens erkannt und geachtet wird, können wir über die Gestaltung von Zukunftsräumen, ländlichen und städtischen verantwortungsvoll nachdenken.

Quellen:
Positionspapier Rothneusiedl / Zukunftshof
Friedrich von Borries / Benjamin Kasten: Stadt der Zukunft, Fischer-Verlag
Andreas Gugumuk, Rothneusiedl: Das essbare Stadtdorf des dritten Jahrtausends
Nicolas Brown / Alex Tate: „Unser Wasser”, ARTE F, 2020

A. Y. Hoekstra / The green, blue and grey water footprint of crops and derived crop products / Hydrol. Earth Syst. Sci., 15, 1577–1600, 2011

Bilder: © Zdravko Haderlap & Archiv Gugumuck

ROTH:NEU:SIEDL folgt dem Wasser
Grundsatzfragen für innovative, künstlerische Praktik
von  Zdravko Haderlap © 2021

Wasser ist die Grundlage allen Lebens. Die Wahrnehmung und Anerkennung dieses Zusammenhangs sind wichtige Voraussetzung für ein tieferes Verständnis unserer Teilhabe an der Umwelt und unserer Abhängigkeit von ihr. Der Mensch selbst ist Teil der geteilten Ressource Wasser. Bei der Geburt besteht der menschliche Körper zu 95 Prozent aus Wasser. Im Erwachsenenalter sinkt der Anteil jedoch auf knapp 70 Prozent (ca. 43 Liter). Auch bei den Tieren ist der Anteil des Wassers im Körper etwa gleich groß. Wasser ist der Hauptbestandteil lebender Zellen. Dabei dient es nicht nur als universelles Lösungsmittel, sondern wird auch im Zellstoffwechsel hergestellt und als Substrat in der Fotosynthese benötigt.
Es ist hoch an der Zeit zu erkennen, dass alles von Menschen auf lokaler, regionaler und globaler Ebene Angewendete und Geschaffene im Sinne einer für Mensch und Umwelt verträglichen, klimafreundlichen und nachhaltigen Gestaltung geschieht. Wasser als Lebensspender und Lebensprinzip speist den Strom der Gedanken und offenen Fragen:

1.
Salzwasser:
Welches Verständnis müsste in der Zukunftsstadt Rothneusiedl für ihr Verhältnis zu den Lebensräumen der Meere und Ozeane geschaffen werden, damit sich das folgende slowakische Märchen bewahrheitet: "Ich will dich erst dann wiedersehen, wenn den Menschen Salz wertvoller als Gold und Edelsteine erscheinen wird.“

Süßwasser: Durch welche Innovationen (sozial, ökonomisch, energetisch, kulturell) kann die Zukunftsstadt Rothneusiedl das vor Ort und in der Region vorhandene Süßwasser (Bach Liesing, Regenwasser & Grundwasser, etc.) optimal nützen, damit es nach der Zwischennutzung in unveränderter Molekülstruktur dem natürlichen Kreislauf wieder zugeführt werden kann?

2.Vorbildstadt: Mit welchen Methoden im Bereich der Rohstoff- und Nahrungsmittelproduktion, der technischen Industrie, im Handel, im Bauwesen und im Alltag kann die Zukunftsstadt Rothneusiedl den herkömmlichen wasser- und energieverschwenderischen Praktiken („virtuellen Flüsse“ mit ihrem verheerenden ökologischen Fußabdruck) entgegenwirken?

3.Auf Klima und geologische Beschaffenheit ausgerichtete Zukunftsstadt: Wie kann Rothneusiedl auf der Grundlage der geologischen Verhältnisse samt Grund- und Oberflächenwasser sowie dem vor Ort von jahreszeitlichen Zyklen bestimmten Klima (Licht und Schatten, Sonne, Regen, Wind, Luft- und Wasserströmungen) in Bau- Grün- und Wasserflächen aufgegliedert werden?

4.Energieautarke Zukunftsstadt: Wie kann die Zukunftsstadt Rothneusiedl durch Nutzung der vor Ort gegebenen klimatischen, geologischen und hydrologischen Bedingungen energieautark werden?

5.Rothneusiedl als selbstverwaltetes Wasserschutzgebiet: Kann eine sozial- und klimagerechte Zukunftsstadt Rothneusiedl durch die geschaffenen „natürlichen“ Wasserkreisläufe von den Bewohnern_innen auch als vorbildhaftes „Wasserschutzgebiet“ gestaltet bzw. verstanden werden?

6.Kosmische Zukunftsstadt: Wie soll die Arbeit der Bewohner_innen der Zukunftsstadt Rothneusiedl in der Herstellung, im Handel oder im Konsum von Produkten so organisiert und eingerichtet werden, dass sie auch auf das alte Wissen über Mondphasen, Planetenstellung und Tierkreiszeichen Rücksicht nimmt?

7.Rothneusiedl mit selbstverwaltetem Naturschutz: Wie kann eine sozial- und klimafreundliche Zukunftsstadt Rothneusiedl, samt baulicher Infrastruktur und den von den Bewohnern_innen gestalteten Natur- und Kulturlandschaften, als eine durch die höchsten Standards geschützte Symbiose von Natur-, Lebens- und Kulturräumen entstehen? Lässt sich die Vorstellung, dass der Mensch integraler Teil des gesamten natürlichen Gefüges ist, wie das seit Jahrhunderten gelebte Praxis in den Alpenregionen bis zum Einbruch des Tourismus war, auch auf ein städtisches Zukunftsgebiet übertragen? 

8.Denk:Mal:Kultur:Stadt Rothneusiedl: Wie kann eine umweltgerechte Zukunftsstadt Rothneusiedl mitsamt ihren vielfältigen Natur-, Lebens- und Kulturräumen als vitaler Gegenentwurf zur derzeit vorherrschenden Zerstörung der Erde gestaltet werden  – Stichworte: Kolonialisierung, vom Menschen vorangetriebene Ausbeutung und Auslöschung von Habitaten/Lebensräumen mitsamt der damit verbundenen Umwelt- und Lebensraumzerstörung ?

9.Erinnerungs-Stadt Rothneusiedl: Wie kann das Vermächtnis der verstorbenen, ausgerotteten, verschollenen, aus dem Bewusstsein verdrängten und vergessenen Menschen, die im Laufe der Jahrhunderte Rothneusiedl mitgestaltet haben, und deren Existenz und deren Arbeit für den Lauf der Dinge bis heute von Bedeutung sind, erforscht, vermittelt und fruchtbar gemacht werden?

10.Bildungsstadt Rothneusiedl: Welche Möglichkeiten bietet die Zukunftsstadt Rothneusiedl als Bildungsstadt,  damit das alte, traditionelle Wissen über die Natur, die Kenntnisse und Arbeitspraktiken ausgestorbener Kulturen, die Erfahrungen älterer, noch lebenden Menschen, das der Kulturlandschaftspfleger in den Alpenregionen oder das der noch lebenden indigenen Völker in die Vermittlungstätigkeit der Bildungseinrichtungen einfließen können?

11.Kunst- & Kulturstadt Rothneusiedl: Mit welchen kulturellen und künstlerischen Methoden gewinnen die Bewohner_innen der Zukunftsstadt Rothneusiedl, als Teil einer sozial gerechten pluralistischen Gesellschaft, ihre von der Natur vorgegebene menschliche Zeit zurück – entgegen der gegenwärtig vorherrschenden ökonomischen Zeit, die Menschen korrumpiert, kolonialisiert und krank macht?

12.Lebensort: Mit welchen Einrichtungen und Praktiken werden die Bewohner_innen der Zukunftsstadt Rothneusiedl ihren sozialen Zusammenhalt fördern und gestalten, damit sie sich selbst, einander, und Natur und Umwelt verstehen und respektieren lernen?

Das WUK am Zukunftshof

Das WUK bringt sich als Genossenschaftsmitglied am Zukunftshof sowohl als Träger von Bildungs- und Beratungsangeboten als auch mit seiner Expertise im Kulturbereich ein.

Während benachteiligte Jugendliche ihre Kompetenzen in einem realitätsnahen Arbeitsumfeld erweitern können, ermöglichen Künstler_innenresidenzen der Kunsthalle Exnergasse seit 2020 eine intensive künstlerische Auseinandersetzung mit Stadtlandwirtschaft und nachhaltiger Stadtentwicklung.

Zdravko Haderlap

ist Artist in Residence der Kunsthalle Exnergasse bis April 2021. In Kollaboration mit Social Design Studio, Universität für Angewandte Kunst Wien.

KEX Residenz

Seit 2012 vergibt die Kunsthalle Exnergasse Stipendien für Künstler_innen- / Research- Residenzen für ein bis drei Monate.
Seit 2020 werden am Zukunftshof interdisziplinäre, themenspezifische Artist-in-Residence-Projekte iniziiert und realisiert.

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