Oh my lord!

Oh my lord!

Vier Jünger der Church of Nick Cave darüber, wie der Großmeister sie durch den Corona-Lockdown lotste.

Der Saal stand leer, wochenlang verwaist waren auch die Proberäume im Keller darunter: Livemusik konnte im WUK erstmals in seiner Geschichte nicht stattfinden. Doch auch in Krisenzeiten bahnt sich Kultur ihren Weg. Rund um den WUK-Musikchef Hannes Cistota bildete sich schon vor der Pandemie eine Interessensgruppe, die die Hingabe zum Großmeister Nick Cave einte. In Zeiten abgesagter Konzerte und eingeschränkter Reisefreiheit konzentrierte sich die Exegese auf die "Red Hand Files", der Newsletter an die Caveschen Schäfchen. Wie die digitalen Worte sie durch den Corona-Lockdown lotsten, davon erzählen Hannes Cistota, der ehemalige WUK-Mitarbeiter Emanuel Rudas, !ticket-Magazin-Chefredakteur Stefan Baumgartner und der Systemerhalter Gernot Köchl.

"Ich stehe wahrscheinlich auf der Spam-Liste"

Hannes Cistota im Jahr 1995
Hannes im Jahr 1995

Erstes Nick Cave Konzert, ich habe gerade die Matura bestanden, Anreise mit Freunden nach Linz in den Posthof. The Firstborn Is Dead, sein zweites Album mit den Bad Seeds, ist erschienen. Bleibender Moment: Looka yonder! A big black cloud come! Hagere Gesellen auf der Bühne, der Rest verschwommen. Es sollten noch viele Cave Konzerte danach folgen. Bald wird klar, im Caveschen Universum geht es nur zum Teil um Musik, sondern vor allem auch um Religion, Trost und Rat, Popkultur, Yoga, Anzüge und spitze Schuhe. Neben Konzerten, Alben, Büchern, Filmen, Scores, Question-and-Answer-Shows gibt es auch in unregelmäßigen Abständen Predigerbriefe in Form von Newslettern von der Red Right Hand. Hier werden Fragen der Anhänger_innen beantwortet. Da ich sehr viele Fragen habe, stehe ich wahrscheinlich schon auf der Spam-Liste.

Aber es werden nicht nur Fragen beantwortet, sondern auch Fragen aufgeworfen, große Themen wie Trauer, Leiden, Leben und Tod, künstlerische Prozesse, Sublimierung und Fragen über die Wahrheit, die dem Verkennen entspringt. In Zeiten der Isolation haben viele Angst zu sterben. Sie sind ganz darauf gerichtet, den Tod zu vermeiden und vergessen dabei, zu leben. Durch diese Angst wird die Wahrheit erst konstruiert. Die hier wirkende Struktur kann durch die Geschichte vom Treffen in Samara illustriert werden:

Der Diener eines reichen Kaufmanns aus Bagdad stößt auf dem Markt mit dem Tod zusammen, der ihn böse anzublicken schient; erschrocken kehrt er nach Hause zurück und erzählt seinem Herren: "Der Tod verfolgt mich, in der Nacht will er mich holen: leihe mir, o Herr, dein Pferd, ich will Tag und Nacht reiten und morgen in Samara sein. Dort wird mich der Tod gewiss nicht finden." Der Herr leiht ihm also sein Pferd und geht dann selbst zum Markt. Dort sucht er den Tod auf und spricht ihn an: "Warum hast du meinen Diener so böse angeschaut?" Der Tod antwortet ihm: "Es muss sich wohl um ein Missverständnis handeln, dein Diener hat meinen Blick ganz falsch gedeutet: Keineswegs wollte ich ihm drohen, ich war nur verwundert, ihn hier zu sehen, da ich doch morgen mit ihm in Samara verabredet bin!"

So wird der Zwangsneurotiker den Zeitpunkt immer weiter rausschieben und so den richtigen Zeitpunkt nie finden. "Man up, dude, who pays the fucking rent?"

Hannes Cistota leitet die Musikabteilung im WUK.

"Da spüre ich großes Identifikationspotential"

Viele sagen, sie hätten jetzt seit "der Krise" viel mehr Zeit für sich. Meine Mutter erzählt von tausenden gelesenen Buchseiten, andere wiederum entdecken Meditation und sogar David Lynch sagt, er würde in seiner Werkstatt Tische und Stühlchen zimmern. Mich würde interessieren, wie die aussehen.

Ich würde die Zeit auch gern sinnvoll nutzen. Zum Beispiel, um mal ein umfassendes Bild zu bekommen, was eigentlich außer Corona noch so passiert. Das scheint aber ein auswegloses Unterfangen zu sein: selbst seriöse Medien tickern täglich von früh bis spät, orakeln über zweite Wellen und weitere Bedrohungsszenarien. Das erzeugt bei mir spätestens seit dem zweiten Monat der Pandemie einen schalen Beigeschmack. Wie viele "Corona-Tagebücher" noch das Tageslicht erblicken werden oder überflüssige Popalben aus der Isolation entstehen, kann wohl nicht mal Christian Drosten verlässlich prognostizieren.

Auch im Posteingang meines Laptops haben die Angebote asiatischer Mund-Nasen-Maskenhersteller längst jene von sexuellen Dienstleistungen in der Topliste des Spamordners abgelöst. Überhaupt sind gute Nachrichten eher Mangelware.

Doch hier und da kommt Post von der Stimme der Vernunft. Nick Cave beantwortet schon seit geraumer Zeit die Fragen seiner Fans per Mailverteiler und tut das auch weiterhin weitestgehend virenfrei. Während Kunst und Spiritualität durchaus eine Rolle spielen, vermeidet Cave gekonnt, in Briefform zum wunderlichen Eso-Onkel zu werden. Humorvoll, immer in überlegter Wortwahl, zutiefst ehrlich und offen sind seine Antworten. Ich habe großen Respekt für die Art, wie er über persönliche Schicksalsschläge schreibt. Letztlich sind seine "Red Hand Files" aber keine Selbsthilfegruppe, sondern ein entspannter Austausch. 

Gefragt, was er denn tun würde, sollte die Welt in 72 Stunden untergehen, antwortet Cave in schlicht: "I’d freak the fuck out. Love, Nick". Da spüre ich bei mir großes Identifikationspotential. Große Weisheiten brauchen keine tausenden Seiten.

Emanuel Rudas ist Geschäftsführer in André Hellers Anima Garten in Marrakesch.

Emanuel (1.v.l.) mit der Church Of Cave in Bologna

"Wo ist da der individuelle Lichtblick?"

Stefan (2.v.l.) bei einem Konzert von Sunn O)))

Wir sind gefühlt bereits Äonen in die Zeitrechnung "nach Corona" eingedrungen, und während vor Corona meine Tage von früh (beruflich) bis spät (privat) mit Kultur befüllt waren - Salzburger Festspiele, Bundesmuseen, Bundestheater und Artverwandtes - regiert heute die Tristesse: Sämtliche überlebensnotwendigen Lebensbereiche vom Baumarkt bis zur Fastfood-Kette lassen bereits schüchtern-zaghaft wiedererblühende Knospen erahnen, doch in der Kulturbranche herrscht fürderhin freudloser, griesgrauer Herbst. Ich lebe mit neidvollem Blick auf alle Häuslbauer und Ronalds McFreunde zwangs-inkarzeriert - als Weltbürger kärntnerischer Provenienz ist mir in meinem kurzen Leben bereits zum zweiten Male die Sonne genommen worden. 

Wer nun also, so wie ich, Trübsal blasend im endlos scheinenden Tal sitzt - und davon wissen wohl auch die Kleinwalser ein Liedchen zu trällern - frohlockt über jeden gleißenden Lichtstreifen, der sich in die Senke bricht. Wobei: Als mündiges Individuum wähne ich Serotonin in den Sonnenstrahlen allein - hingegen ein Götzendienst, ein Sonnen im Antlitz eines vermeintlichen Heilbringers in Form einer atmosphärischen Phantasiegestalt oder eines narzisstischen Prahlers ist mir elendiglich zuwider.

Jede Regel hat freilich zumindest eine Ausnahme: Nick Cave, der australische Poète maudit, ist eine aufgekratzte Mischung aus US-TV-Evangelisten und Elvis Presley, er sorgt mit seinem eruptiven Gestus und in sich zerbrochener Lyrik für eine Katharsis, die in ihrer kalt lodernden Umarmung stets einen Hauch von Hoffnung verspricht. Wenn Nick Cave auf der Bühne steht, und sich wie ein elegant gewandeter Teufel vornüberbeugt, dann züngeln ihm abertausend Hände wie giftig-gierig zischelnde Schlangen entgegen, und der Herrgott selbst steigt herab in die Schlangengrube und suhlt sich im triefenden Gift der entrückten Antlitze. Wenn er rezitiert, dann prallen Welten aufeinander und lassen aus dem Koloss der Selbstzerstörung neues Leben erwachen. Ja, und selbst wenn er lediglich über das sonst so nüchterne und emotionslose E-Mail-Postfach mit seinen Jüngern kommuniziert - Moses musste noch mühsam wegen zwei depperter Steinplatten auf den Sinaiberg kraxeln - dann durchfährt einem die zölestische, ja: ätherische Größe seiner Erscheinung: In regelmäßigen Abständen tritt Nick Cave unter dem Banner der "Red Hand Files" hier ins Zwiegespräch mit seinen Apologeten und lädt sie ein, sich gleichermaßen an banalen wie tiefgründigen Menschheitsfragen zu bereichern - oder vielmehr an seinen wohlüberlegten, bereichernden, manchmal humoristischen Antworten. Antworten, die Wege lediglich vorschreiten, nie vorgeben, wie etwa die Frage nach "A Prayer to who?" beweist. Hier spricht der Herrgott selbst: "It is just as valuable to pray into your disbelief, as it is to pray into your belief, for prayer is not an encounter with an external agent, rather it is an encounter with oneself."

Wo ist da der individuelle Lichtblick, mögen Sie fragen? Erstens: Es ist in Zeiten wie diesen mehr als dazumal eine Bereicherung, eine kultivierte Unterhaltung zu erfahren. Und zweitens führt Nick Cave zu Corona aus: "By forcing us into isolation, it has dismantled our constructed selves, by challenging our presumed needs, our desires, and our ambitions and rendered us raw, essential and reflective." Wenn ich nun also auch weiterhin nicht sonders begeistert bin, dass Corona mein Leben umkrempelt und vor neue Herausforderungen stellt, so weiß ich zumindest: Gott laboriert auch.

Stefan Baumgartner ist !ticket-Magazin-Chefredakteur.

"Klatscht lieber für die, die um ihre Existenz bangen"

In jeder Krise kommen sie aus ihren Löchern gekrochen. Die Prediger, die Wissenden, die Heilsbringer… zaghaft meldet sich dann auch die Kirche, nennen wir sie die oberste Instanz der Heuchelei, zu Wort.

Nun, meine persönliche Krise hat leider schon vor Corona ihren Lauf begonnen, aber die Corona-Krise hat mir den Weg zum Licht natürlich massiv erschwert, hat ihn verlängert. Warum? Ich glaube eben nicht an Institutionen, die Kirche und ich gingen schon vor Jahrzehnten getrennte Wege, und auch Menschen, die für alles die passende Lösung parat haben, sind mir suspekt. Mein Weg aus persönlichen Krisen war immer das, was mir die Religion ersetzt hat: Kultur im weitesten und Musik im engsten Sinne. Die Menschen, die meine Interessen teilen und mich alleine dadurch besser verstehen als die Prediger, die Konzerte, die mich für Stunden in eine andere Welt gebeamt haben, im besten Falle mehrere Tage nachhallen.

Das sind meine Werkzeuge, meine Anker im Leben. Und eben das hat mir Corona genommen.

Und dabei bin ich, obwohl ich vorbelastet in die Krise geschlittert bin, ein Gewinner. Einen, den es nur halb so schlimm getroffen hat wie viele meiner Freund_innen. Ich bin ein sogenannter "System-Erhalter". Wie sehr hasse ich dieses Wort. Ich habe einen Job! Wäre nicht jede_r gerne ein System-Erhalter, wenn man ihn nur ließe? Also klatscht einmal für die, die um ihre Existenz bangen und zum Nichtstun verdammt sind. Wenn ihr denn schon unbedingt klatschen müsst… Ich bin auch nicht der Meinung, dass die Gesellschaft durch die Krise zusammenrückt. Das mag punktuell stimmen, aber in der Realität des Lebens dividiert sie auseinander. Ich weiß, man will gerade in Krisen auch was Gutes finden. Aber wenn man sich das Gute um drei Ecken konstruieren muss, ist es nicht da. Sorry, but take it.

Aber ich schweife ab. Zurück zum Ursprung. Der Weg durch und aus der Krise. Für mich waren es immer wieder bestimmte Künstler_innen, Musiker_innen, Platten, die jedes Mal auf meinem Plattenspieler landen, wenn es brennt oder die Sonne gerade extra hell scheint. Viele Künstler_innen und Bands begleiten mich schon mein ganzes Leben. Und dann gibt es da noch den einen, der scheinbar wie durch Zauberhand immer die richtige Platte zur richtigen Zeit raushaut. Und so gibt es ihn doch für mich, den Einen, den "Personal Jesus", der mich doch noch zum Gläubigen werden ließ. Und er kommt aus einem australischen Nest Namens Warracknabeal und hört auf den Namen Nick Edward Cave. Und weil er immer weiß, was ich gerade brauche, um durch schwierige, schöne und außergewöhnliche Zeiten zu kommen, hat er auch im Vorjahr genau die richtige Platte für mich veröffentlicht. Geleitet vom eigenen Schmerz, aber stehts das Licht und die Erlösung im Auge. Die Worte so universell umdeutbar, dass sich jede_r darin wiederfinden kann, wenn er nur will. Und als hätte er geahnt, dass der Welt in Kürze Schlimmes bevorsteht, hat er es diesmal nicht bei einer Platte gelassen, sondern auch noch eine Form gefunden, um mit seinen Fans in sehr persönlichen Kontakt zu treten. The Red Hand Files. Ursprünglich natürlich zur eigenen Therapie ins Leben gerufen, ist diese Plattform mittlerweile für viele seiner Jünger (ja, das bin ich) eine echte Lebenshilfe geworden. Die Menschen glauben ihm, sie nehmen seinen Rat an, und lassen sich leiten… Und auch ich will ihm glauben. Und ist das Wollen nicht der Grundsatz jeden Glaubens? So wurde ich doch noch Mitglied einer Kirche. Der Church of Cave. Und so gehen wir gemeinsam durch die Krise und ich weiß, am Ende wird er auf mich warten. Und mit ihm meine Freund_innen, meine Musik, die Konzerte, das Theater… das Leben.

Gernot Köchl ist PKA im Kaiser-Franz-Josef-Spital.

Gernot (2.v.l.) mit Messwein und seinen Mitjüngern

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