Waren wir naiv?
Wir lesen täglich Meldungen, die uns irritieren. Darunter auch Meldungen, die jenen, die immer schon wussten, dass Migrant_innen böse, Flüchtlinge Betrüger_innen und Muslime Primitive sind, in die Hände spielen: Berichte über neunjährige Mädchen, die gezwungen sind, sich zu verschleiern. Statistiken über zunehmende Angriffe auf jüdische Einrichtungen. Schilderungen sexueller Übergriffe durch Asylsuchende. Das alles verunsichert. Und es erschüttert auch jene, die sich immer als Antirassist_innen verstanden haben. Manche fragen sich: Waren wir naiv?
Im Blinklicht medialer Aufmerksamkeit fällt es schwer, klar zu sehen. Berichte über Straftaten, die von Migrant_innen begangen werden, werden in manchen Medien deutlich prominenter platziert als schnöde Inländer_innenkriminalität, sie werden auch mit größerem Interesse gelesen und geteilt. Mädchen werden zwar auch in nichtmuslimischen Familien unterdrückt, Antisemitismus ist in der Mehrheitsgesellschaft tief verwurzelt, sexuelle Gewalt allgegenwärtig. Aber das klingt eben weniger sexy.
Gelähmter Kampfgeist
Es scheint oft schwierig zu sein, die Balance zu halten: zwischen dem Bagatellisieren von Problemen einerseits, und dem Muster, jede Verhaltensweise mit „kulturellen Eigenheiten“ der jeweiligen Gruppe zu begründen, andererseits. Dieser Balanceakt verunsichert auch jene, die für Inklusion und gegen Diskriminierung gekämpft haben. Diese Verunsicherung lähmt. Da wir ihr immer häufiger ausgesetzt sind, weil die Rede von den „Integrationsproblemen“ alles dominiert, weil diese Debatten fast nur noch polemisch geführt werden, könnte diese Lähmung mit ein Grund dafür sein, warum Asylrechtsverschärfungen und Einschränkungen der Rechte von Zugewanderten oft ohne großen Protest realisiert werden können.
Es sollen hier nicht längst vergangene Zeiten verklärt werden. Zivilcourage gibt es auch heute, man muss nicht Hymnen auf das Lichtermeer oder die Donnerstagsdemonstrationen anstimmen, unzählige Initiativen wurden 2015 geboren, viele von ihnen gibt es noch heute. Aber der Ton wird rauer. Die, die immer schon dachten, dass Migration eine lästige Begleiterscheinung einer offenen Gesellschaft sei, fühlen sich heute bestärkt. Und der Protest gegen die Asylobergrenze, die Mindestsicherungskürzung hielt sich in Grenzen. Manche führen das auf Bequemlichkeit zurück, auf den Rückzug ins Private, aber das Problem ist komplexer.
Wegschauen aus Tradition
Es gibt diesen Stehsatz, der seit mehr als zehn Jahren gerne hervorgekramt wird, wenn es um Integration geht: Wir dürfen vor Problemen nicht mehr die Augen verschließen. Die Erzählung, wonach wir früher weggeschaut haben, nun aber endlich hinschauen, ist beliebt. Sie ist Wahrheit und Lüge zugleich.
Die Wahrheit ist, dass tatsächlich weggeschaut wurde, als die Gastarbeiter_innengeneration, deren Arbeitsleistung man gerne und billigst entgegennahm, begann, sesshaft zu werden. Als man auch die Kinder der Gastarbeiter_innen ausgegrenzt, in Sonderschulen gesteckt hat, unabhängig davon, was sie wollten und konnten.
Es ist jedoch eine Lüge zu behaupten, dass man jetzt sehr wohl hinsehe, wenn es Probleme gibt. Denn es würde zusätzliches Geld und mehr Entschlossenheit erfordern, aus den Fehlern von damals zu lernen, und jenen, die schlechtere Chancen haben, Aufstiegsangebote zu machen. Das gibt es in Gemeinden, zum Teil noch auf Landesebene, auf Bundesebene jedoch weniger. Dort beschränkt man sich darauf, Probleme zu dramatisieren, um dann nichts zu tun, außer verbale Härte zu demonstrieren – und die Schuld unter den Betroffenen zu suchen. Ob Wertekurse, Deutschprüfungen oder hohe Hürden zur Einbürgerung, die Parole ist: Bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt, und bist du willig, so brauch ich sie auch.
Offen für Menschen, hart gegen Hetze
Wer davon profitiert, ist der rechte Rand. Die FPÖ, die immer verstanden hat, ihren Rassismus als demokratieverträgliche „Immigrationsskepsis“ zu verkaufen, tut so, als hätte sie es „immer schon gewusst“. Als wären sie, die so erbost Parallelgesellschaften anprangern, nicht selbst glühende Verfechter_innen eines Parallelgesellschaftsmodells: nur ja kein kultureller Austausch, lautet die Devise – Inklusion als Bedrohungsszenario.
Viele, die immer gegen Rassismus eingetreten sind, scheinen ratlos zu sein. Denn zu den Problemen, die ignoriert wurden, gehört auch, dass der Antisemitismus nicht nur von den Rechten, sondern auch und verstärkt von jenen kommt, die selbst von Rassismus betroffen sind. Dass Menschen, die vor einem Gewaltregime geflohen sind, nun anderen Gruppen pauschal mit Gewalt drohen. Es reicht also schon lange nicht mehr, sich für die Diskriminierten einzusetzen – weil alle Diskriminierten selbst zu Diskriminierenden werden können.
Diese Ratlosigkeit könnte aber eine Chance sein. Manchmal ist gründliche Verunsicherung ein Ausgangspunkt neuer Orientierung. Bei aller Spaltungsrhetorik werden auch die Stimmen, die ein neues Miteinander fordern, lauter. Ihr Tenor ist: Jede Gesellschaft braucht eine Zukunftsvision. Damit der kleinste gemeinsame Nenner nicht darin besteht, sich von denen da draußen abzugrenzen – ob mit Zäunen oder Kampfparolen.
Ein neues Wir könnte sich sozialpolitischen Zielen verschreiben, anstatt kulturelle Differenzen hervorzuheben. Jedenfalls muss es sich gegen Hetze gegenüber von Schwäche stellen – egal, von wem sie kommt. Offen für Menschen, hart gegen Hetze – das könnte ein Leitprinzip sein. Das klingt nach Minimalkonsens. Im gegenwärtigen Klima, das offen für Hetze, aber hart gegenüber schutzsuchenden Menschen ist, wäre damit aber schon viel erreicht.
Maria Sterkl ist Redakteurin im Ressort Innenpolitik der Tageszeitung DER STANDARD.