Extrem Radikal
Suche nach Zugehörigkeit
Radikalisierung, oder besser Fanatisierung, ist immer ein Prozess. Sie geschieht nie durch ein singuläres Ereignis, sondern ist eine Folge von unterschiedlichen Entfremdungserfahrungen aus denen heraus dann politisch-ideologische Gruppen Personen abholen und diese mit fanatischen Positionen in Verbindung bringen. Diese Prozesse können in unterschiedliche Richtungen gehen, Fanatisierung in Richtung Jihadismus ist nur eine mögliche Form. Die psychischen Prozesse, die Jugendliche oder junge Erwachsene zum Jihadismus treiben, sind allerdings nicht unähnlich jenen, die andere etwa zu Rechtsextremist_innen werden lassen.
Im Zuge unserer Arbeit im 2014 gegründeten Netzwerk Sozialer Zusammenhalt hatten wir Einsicht in über 60 Biographien von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich in Richtung Jihadismus entwickelt haben und die sich in unterschiedlichen Stadien eines solchen Fanatisierungsprozesses befanden. Ihren Biographien war wenig gemeinsam. Die persönlichen Krisen, die diese Menschen in den Jihadismus getrieben haben, waren höchst unterschiedlicher Natur: Probleme in der Schule, am Arbeits- oder Ausbildungsplatz, zerrüttete Familienverhältnisse, psychische Probleme, das Gefühl der Leere und Ausgrenzung, von Sinnlosigkeit und Überflüssigkeit, sexuelle Probleme bzw. Probleme im Umgang mit der eigenen – oft unterdrückten – Sexualität. All dies kann zu der oben beschriebenen Entfremdung führen. Wenn dann verzweifelt nach Halt, Zugehörigkeit und Sinn gesucht wird, können solche Angebote sehr attraktiv sein. Die Betroffenen suchen eigentlich nie nach Religion. Was sie suchen ist eine klar abgegrenzte identitätsbildende Gruppe, die ihnen Halt, Sinn und Geborgenheit bietet.
Die konkrete Ideologie, die in dieser Gruppe propagiert wird, ist oft austauschbar. Dies erklärt auch ideologische Sprünge in Fanatisierungsbiographien, wie wir sie auch kennen. Dies ist kein neues Phänomen. In Deutschland, wo es in den 1970er-Jahren eine größere bewaffnete linksextreme Szene gab, landeten einige der damaligen Aktivist_innen später bei Neonazis oder Jihadist_innen. Schon Horst Mahler schaffte nahtlos den Sprung von der Roten Armee Fraktion (RAF) zum Neonazi. Eine Generation später wechselte Bernhard Falk von den Antiimperialistischen Zellen zum Jihadismus. In Österreich sind uns Fälle bekannt, bei denen sich ehemalige Rechtsextremist_innen dem Jihadismus zuwendeten, wie etwa Muhammad Siddiq, der, als er noch Bernd hieß, rechtsextremem Gedankengut frönte.
Unaufgearbeitete Kriegstraumata
Der Jihadismus hat sich aus verschiedenen Strömungen des Politischen Islam entwickelt, stellt jedoch noch eine weitere Fanatisierung gegenüber den Positionen der Muslimbruderschaft oder des Wahabismus dar. Im Unterschied zu manch anderen Ideologien führt der Jihadismus oft sehr rasch direkt in den terroristischen Untergrund bzw. zur Ausreise in den so genannten „Islamischen Staat“ IS oder zu einer anderen jihadistischen Gruppe nach Syrien. Eine Rückkehr ist in diesen Fällen viel schwieriger als bei Gruppierungen, die sich nicht von vornherein dermaßen schwerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben.
Auch wenn jihadistische Gruppen sich schon seit einigen Jahren eines wachsenden Zulaufs erfreuen, so hat der politische und propagandistische Erfolg des so genannten „Islamischen Staates“ in den letzten Monaten doch zu einem verstärkten Zulauf von jihadistischen Kämpfer_innen und Sympathisant_innen in den IS geführt. In Österreich ist dabei zwischen zwei Gruppen zu unterscheiden: Einerseits gibt es eine relativ große Gruppe junger Tschetschen_innen, die teilweise als Kinder bereits extrem traumatisierende Erfahrungen in Tschetschenien machten, die nie aufgearbeitet wurden und deren Radikalisierung auch mit der politischen Entwicklung im Nordkaukasus zusammenhängt. Diese mehrheitlich jungen Männer stoßen auf stark patriarchal geprägte Männlichkeitsbilder, deren Nichteinlösbarkeit zu einem ständigen schlechten Gewissen führt. Lange Wartelisten bei psychotherapeutischen Betreuungseinrichtungen für Folter- und Kriegstraumatisierte, wie bei Hemayat, rächen sich Jahre später bei jenen, die dann den Krieg der Väter in Syrien weiterkämpfen wollen. Hier ernten wir gewissermaßen die Früchte der russischen Tschetschenienpolitik. Auch bei der zweitgrößten Gruppe bosnienstämmiger Jugendlicher dürften solche frühen Kriegstraumata eine wichtige Basis für eine spätere Radikalisierung gelegt haben. Diese sind aber, wie alle anderen Betroffenen, bereits in unserer Gesellschaft sozialisiert worden. Ihre Radikalisierung ist auch ein Produkt unserer Gesellschaft.
Auftrag an die Gesellschaft
Damit ist auch unsere Gesellschaft gefragt, damit umzugehen und in Prävention und Deradikalisierung zu investieren. Bisher stehen wir damit allerdings höchstens am Anfang. Bisherige Einrichtungen genügen weder qualitativ noch quantitativ, um dem wachsenden Problem Herr zu werden. Von einer politischen Debatte, wie die wachsende Zahl an entfremdeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen wieder in eine Gesamtgesellschaft integriert werden kann, sind wir noch weit entfernt.
Thomas Schmidinger ist Politikwissenschafter an der Uni Wien und lehrt im Master-Studiengang für Interkulturelle Soziale Arbeit an der FH Vorarlberg. Gemeinsam mit Moussa al-Hassan Diaw hat er das Netzwerk Sozialer Zusammenhalt zur Jihadismus-Prävention und Deradikalisierung gegründet, das 2015 den European Citizen‘s Price des Europäischen Parlaments erhielt.
WUK Bildungs- und Beratungstag 2015
Extrem Radikal
Präventive Strategien im Umgang mit der Radikalisierung von Jugendlichen
Di 20.10., 13 – 17 Uhr, Saal, Eintritt frei