Das ist die wahre, krachende Katharsis
Abrissarbeiten haben manchmal auch etwas Kathartisches: Insbesondere, wenn kurz vor der anstehenden Renovierung durch das WUK der verstörende, aber schöne Lärm pflügt und beim Reinemachen hilft. Verantwortlich zeichnen einmal mehr die Indierocker_innen Low, im Gepäck "Hey What".
Im besten Falle ist Musik nicht nur ein beiläufiges Gedudel, sondern erweckt tief in der_dem Hörer_in bedeutungsschwangere Emotionen, wirkt also auf das Glücksareal im Hirn nicht unähnlich wie Schokolade, Sex oder Drogen – und da ist zweifelsohne die Musik die vielleicht gesündeste und an Nebenwirkungen ärmste Stimulanz. Irgendwo zwischen Erregung und Spannung nistet sich hier das Lustempfinden ein, als Resultat sind nicht selten Gänsehaut, Tränen, Flattern in der Magengegend oder Herzrasen zu vermelden. Ja, Musik ist tatsächlich eine universelle Sprache, Töne dringen weit in die Tiefen der menschlichen Seele vor. Gerade laute oder gar schrille Klänge, überraschende Wechsel oder dissonant aufheulende Melodien erhöhen in ihrer Bedrohlichkeit den Herzschlag, noch bevor wir bewusst darüber nachdenken – und ziehen die_den geneigte_n Hörer_in somit hinein in einen spannungsgeladenen Mahlstrom, der ähnlich wie ein Kirchengang oder Meditation transzendente Gefühle erwecken kann. Freilich: Ein Rezept gibt es auch in der Welt der Musik nicht, doch es ist auffällig, dass gerade Künstler_innen, die ihre Verstärker bis zum Anschlag hochjagen und gleichzeitig ein Wechselbad der Gefühle musikalisch und gerne repetitiv doppeln, aus Belanglosigkeit Bedeutsamkeit werden lassen.
Wenn etwa ein alter Zausel wie Neil Young mit dem Rücken zum Publikum steht und minutenlang Feedback auf Feedback durch die Verstärker jagt, so fräst sich sein Mantra alles andere als altersmilde meditativ in die Gehirnwindungen ein. Oder auch die Swans, die atonale, krachige Momente in repetitiven Stoizismus ausbreiten, sodass sich der Boden des Konzertsaals zu einem abgründischen Klangteppich wandelt. Oder wenn bei SunnO))) das Fundament und mit ihm das Firmament erzittert, wenn sich ihre schweren, mächtigen, dunklen Sub-Bass-Frequenzen ausbreiten und nicht nur die Ohren, sondern auch die Köpfe und den gesamten Körper umhüllen und die lang stehenden Töne zu Vibrationen zerfallen, die einander überlagern und schließlich tonnenschwer leibhaftig auf den Brustkorb drücken, dass gern auch einmal Atemnot herrscht. Und schließlich auch bei Low, deren fließende Klänge nicht selten anstrengend, dabei aber so kathartisch wie eine Meditation sein können. Schwelgerische Passagen tiefer Harmonie treffen auf eine exzessive Dekonstruktion der Klänge, ein pointiert gesetztes Surren, Rauschen – gemeinhin: Noise – erschafft mit mantrischer Hypnose einen suchtgefährdenden Sog, der oftmals vom luziden Zauber der beinah kristallinen Stimmen umhüllt wird.
Gerade auf ihrem aktuellen Album "Hey What" kredenzen Low in einer ineinanderfließenden Detailfülle, die mal abgrundtief versinkt, bevor sie wieder in lichte Höhen jagt, eine unglaubliche Intensität – und das mit Konsequenz. Die Passagen trümmern und erbauen aus den Tonbrocken Neues, in ihrer schier ewigen Wiederholung klingen die sich windenden Passagen verschwommen, mit anschwellenden Feedbacks, herzzerreißenden Akkordwechseln und einer stetigen "Spannung ohne Entspannung", wie Alan Sparhawk es selbst auf den Punkt bringt. Sie springen – oft durch übersteuerte Unsauberkeiten – zwischen sauber und verzerrt, zwischen laut und leise, zwischen licht und dunkel, von Störgeräuschen wieder zurück zum Song. Nicht selten wird der Sound zerstückelt, doch gerade dann, wenn die innere Unruhe darob zu groß wird, ist sie wieder zurück, die klare Melodie – stoisch und fest.
Mit ihrem akustischen Abenteuer schaffen Low entrückende Erlebnisse, ähnlich wie Apnoetaucher_innen oder Extrembergsteiger_innen fühlen sich Konzertbesucher_innen dann, wenn sie durch Wellen tauchen und in Nebelschwaden gehüllt sind, obwohl die Meereshöhe im Konzertsaal eigentlich stabil bleibt. Das ist die wahre, krachende Katharsis – und mein Versprechen: Lassen Sie sich auf Low ein, lassen Sie sich entrücken und Sie werden geläutert erwachen.
Lobgesang: Stefan Baumgartner.
Low spielen am 11.5.2022 im WUK.
Stefan Baumgartner ist Chefredakteur des !ticket-Magazins von oeticket und hört privat wie beruflich gerne viel, laut und für Otto & Ottilie Normal Enervierendes.