Der Wert unterschiedlicher Erfahrungshorizonte

Marielle Stera / Mwita Mataro (c) Peter van Heesen / Margarita Keller

Der Wert unterschiedlicher Erfahrungshorizonte

Diversität beim Waves und den Musiktheatertagen

Mwita Mataro und Marielle Stera im WUK Radio

Baustelle ist Realität und Metapher. Ein Ort des Unfertigen und des Übergangs, des Verschwindens und Entstehens, des Umbruchs und des Aufbruchs. Es ist ein Ort in Bewegung.

In den kommenden Monaten beschäftigen wir uns mit den Baustellen, die uns umgeben – in der Gesellschaft, am Arbeitsplatz, in der Umwelt … Wir bedenken, was umgebaut und was abgerissen werden soll, untersuchen Bruchstellen und graben nach Alternativen.

In diesem Text widmen wir uns der "Baustelle Diversität".

Mit dem Waves Festival und den Musiktheatertagen Wien finden im September zwei Festivals im WUK statt, die einen dezidierten Schwerpunkt auf Diversität legen. Das Showcase-Festival Waves hat sich einen Diversity-Beirat ins Boot geholt, dem u.a. der Musiker Mwita Mataro angehört. Die Musiktheatertage wiederum haben das Kollektiv glanz&krawall eingeladen, das rund um die Regisseurin Marielle Stera an einer feministischen Revision der Hochkultur arbeitet. Alina Brandstötter vom WUK Radio hat die beiden zum gemeinsamen Interview getroffen.

Alina Brandstötter: Wir sprechen heute über Diversität bei Festivals. Wollt ihr euch zuerst einmal vorstellen?

Marielle Sterra: Ich bin Regisseurin und Teil der künstlerischen Leitung des Musiktheater-Kollektivs glanz&krawall in Berlin. Wir sind diesen Herbst mit unserer Produktion "La Bohème Supergroup" zu den Musiktheatertagen eingeladen. Sie beschäftigt sich mit Puccinis Oper "La Bohème", unterzieht sie einer feministischen Revision und münzt sie zu einem Punk-Konzert um. Ich komme aus der klassischen Musik, das ist ein stark männlich und sehr hochkulturell dominiertes Umfeld. Durch die Zusammenarbeit mit Laien, mit Menschen aus unterschiedlichen musikalischen Genres und Hintergründen versuchen wir, das aufzubrechen.

Mwita Mataro (er/ihn): Ich bin Kunstschaffender. Begonnen habe ich mit der Musik, als Frontmann der Indierock-Band At Pavillon. Ich arbeite auch gerade an meinem ersten Doku-Spielfilm namens "Austroschwarz", wo ich mich mit meiner Identität als Schwarzer Österreicher beschäftige. Seit diesem Jahr bin ich außerdem Teil des Diversity-Beirats des Musikfestivals Waves.

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Mwita, kannst du uns etwas über das Waves Festival und das Konzept dahinter erzählen?

Mwita: Das Waves ist ein Showcase-Festival, also eine Plattform für die Musikwirtschaft, wo Menschen aus dem Musikbusiness aufeinandertreffen und die neuen Newcomer-Acts fürs nächste Jahr entdecken. Das Waves hat zwei Disziplinen: Konzerte vor allem für das Publikum und eine Konferenz mit Workshops.

Marielle, kannst du uns als Künstlerin bei den Musiktheatertagen in die Festivalgeschichte und die Idee dahinter einführen?

Marielle: Die Musiktheatertage laden Produktionen ein, die zeigen, was Musiktheater auch sein kann, wenn es nicht klassische Oper ist. Musik findet also in sehr unterschiedlichen Formen statt, es gibt unterschiedliche Stoffe und Stückentwicklungen. Wer ist Expertin in diesem Bereich? Wer darf mit welchen Sachen wie auf eine Bühne? Was bedeutet professionell? Was ist der Mindeststandard? Müssen die Menschen eine Gesangsausbildung haben? Das sind Fragen, mit denen man im Musiktheater und in der freien Szene oft konfrontiert wird. Wir haben da einen sehr inklusiven Ansatz. Bei uns liegt das Können nicht in der Perfektion, sondern dass wir als Ensemble so einen Abend schmeißen.

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Am besten steigen wir ins Thema Diversität ein, indem wir über eure persönliche Motivation reden. Was hat euch dazu gebracht, euch näher mit Diversität auseinander zu setzen und in eure Arbeit einzubauen?

Mwita: Ich bin in Österreich geboren, meine Eltern sind aus Tanzania, somit bin ich ein Österreicher mit Migrationshintergrund. Ich war immer die einzige Schwarze Person in der Klasse und im Studium. Als ich mit meiner Band At Pavillon auf Tour war und auf Festivals gespielt habe, war ich noch immer der einzige Schwarze. Und da habe ich mir gedacht: Hey, wo sind denn die anderen? Es kann ja nicht sein, dass alles homogen ist. Österreich ist divers und vielfältig. Also habe ich begonnen, mit meiner Musik die Erfahrungen zu verarbeiten, die ich in meiner Kindheit gemacht habe. Meine Eltern haben mir Geschichten erzählt, wie sie mit Rassismus konfrontiert waren. Als Kind habe ich es auch an ihrer Körperhaltung gespürt. Sie waren nicht so comfortable wie andere, weiße Eltern. Als unsere erste Single "Lions" im Radio gespielt wurde, kam die Frage, was "We are lions" eigentlich bedeutet: An sich glauben, sich nicht niederdrücken lassen. Ich hatte Glück mit einer tollen Band, die an meine Vision glaubt. Wenn man diese emotionale Erfahrung nicht hat, ist es schwierig, das nachzuvollziehen. Somit arbeite ich aus einer sehr emotionalen Motivation heraus. Das ist meine Agenda.

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Marielle: Ich komme aus einem bürgerlichen Hintergrund. Aber meine Mutter hat als erste in ihrer Familie Abitur gemacht. Bei mir spielt also der klassistische Aspekt eine große Rolle: Wann habe ich zu welchen Dingen Zugang und welche Orte verschließen sich auch vielen Leuten? Klassische Musik ist da sehr extrem. Du brauchst Unterricht, der sehr teuer ist. Sowohl im Bereich der Popmusik als auch im klassischen Bereich dominieren nach wie vor vor allem Cis-Männer. Es ist sehr autoritär, gerade am Theater. Es ist ein sehr krasser Unterschied zwischen dem, was Frauen zugetraut wird und was sie können. Es ist nach wie vor schwierig, da voran zu kommen. Wir versuchen auch, Leute unterschiedlichen Alters in unseren Produktionen zu haben. In Deutschland achten wir darauf, das Ost-West-Thema drin zu haben, weil in Leitungspositionen von Theatern und Gruppen oft nur Wessis sind. Bei "Bohème" haben wir im Vorfeld Workshops mit arbeitslosen Frauen gemacht. In "Bohème" geht es ganz stark darum, wer Künstler ist – da muss man wirklich "Künstler" sagen. In dieser Zeit im 19. Jahrhundert sind nur Männer Künstler. Das wird in der Oper nicht richtig hinterfragt. Jetzt stehen mit uns zwei Frauen aus diesem Workshop auf der Bühne. Es ist wertvoll, dass unterschiedliche Erfahrungshorizonte zusammenkommen und man es nicht gleich Sozialprojekt nennt. Das passiert leider auch ganz schnell in der Kulturförderung.

Du hast jetzt schon viele Dimensionen und Perspektiven aufgezählt, die ihr mitdenkt: Alter, Herkunft, Geschlecht. Wie gehst du in der Praxis an das Ganze heran? Wie achtet ihr in der Planung von Produktionen darauf, dass tatsächlich alle diese Perspektiven mitgedacht werden können?

Marielle: Man kann nie alle Perspektiven mitdenken. Letztes Jahr auf einem Festival hatten wir einen inklusiven Schwerpunkt und haben mit vielen Künstler_innen mit und ohne Behinderung zusammengearbeitet. Ein Festival barrierearm zu gestalten hat so viele Dimensionen. Wir wurden sehr gut beraten. Wir versuchen, thematisch zu gucken. Das "Bohème"-Stück haben wir in Berlin im "Mensch Meier" aufgeführt, das ist ein linker Techno-Club. Wir versuchen oft, über Spielorte andere Menschen zu erreichen. Man braucht irgendetwas Gemeinsames – in unserem Fall die Musik – um unterschiedliche Menschen zusammenzubringen.

Mwita: Das finde ich sehr inspirierend. Als kunstschaffende Person habe ich den Schwerpunkt auf den Migrationsaspekt gelegt. Vor allem auf Social Media wird man mit sehr vielen Themen konfrontiert. Da habe ich den bewussten Schritt gemacht, das zu machen, wo ich von einer persönlichen, emotionalen Quelle ausgehen kann. Ich möchte so gut es geht authentische Arbeit machen. Somit kann ich nur meine Geschichten erzählen, wie zum Beispiel beim Film "Austroschwarz". Ich teile die Regie mit Helmut Karner, einem sehr begnadeten Regisseur, der cool findet, was ich mache. Er hilft mir operativ am Set und mit ihm habe ich das Drehbuch geschrieben. Es geht darum, die "weiße Mehrheitsgesellschaft" zu sensibilisieren und vor allem der Schwarzen Bevölkerung in Österreich etwas zu erzählen, wo es nicht um die Opferrolle geht. Und zu Waves: Thomas Heher, Waves-Festivaldirektor, ist an mich herangetragen und hat mir erzählt, dass er dieses Jahr einen Diversity-Beirat installieren möchte, um sich Tipps und Tricks von Leuten zu holen, die aus diversen Szenen und Identitäten kommen. Ich fand sehr schön, dass es das Waves als seine Aufgabe sieht, sich Infos zu holen, und dabei nicht nur die Leute einlädt, sondern auch dementsprechend bezahlt, weil es auch Arbeit ist. Man macht das ja nicht zum Spaß.

Ich will noch kurz über die Außenwirkung eurer Arbeit reden. Wie wird es wahrgenommen, dass ihr eine andere Perspektive einnehmt oder andere Dinge macht? Stoßt ihr vielleicht auch auf negatives Feedback?

Mwita: Es ist sehr schwer, diese Arbeit. Man stößt schon auf sehr, sehr viel Feedback. Und in meiner Arbeit auch Feedback von Migrant_innen, die nicht gut finden, dass ich meinen Migrationshintergrund immer anspreche. Ich habe zum Beispiel mit dem Projekt "Question Me & Answer" zusammengearbeitet und das Format "QM&A On Stage" gegründet. Da geht es darum, die Wiener Szene sichtbarer zu machen. Musiker_innen mit Migrationshintergrund oder Fluchterfahrung können sich bewerben. Eine Jury wählt dann vier Acts aus, die Preise bekommen. Da kam Feedback zur Frage, warum man das in den Vordergrund stellen muss. Es ist schwierig, auf einen Nenner zu kommen. Nichtsdestotrotz bleibe ich bei meiner Agenda, weil ich glaube, dass es wichtig ist. Klar, in einer Utopie ist so etwas nicht mehr nötig. Aber let’s face it, die Realität ist so, wie Marielle gesagt hat: Die Top-Leute in der Musik- und Kunstszene sind weiß und cis-hetero Menschen. Und man muss schauen, dass man das dekonstruiert.

Marielle: Ich kann das unterstreichen. Bei mir hat es auch was damit zu tun, dass ich oft auf patriarchale Strukturen treffe. Klar, Leute finden Arbeiten gut oder schlecht. Aber ich merke zum Beispiel in Verhandlungen über Honorare, dass ich, wenn ich als Frau Dinge sage, leichter als aggressiv wahrgenommen werde, wo männlich gelesene Personen "bestimmt" sind. Ich muss immer süß und nett sein, wenn ich was möchte. Das nervt mich total. Das ist auch eine Frage von Kulturförderung. Es gibt viel Geld für klassische Musik in Deutschland. Ich finde, man muss schauen, wer Zugang hat. Pop ist viel niedrigschwelliger. Förderungen dürfen nicht so elitär verteilt werden. Leute, die noch nicht im Kulturbetrieb abgebildet werden, haben so die Chance, sichtbar zu werden. Ich hoffe, in Zukunft werden mehr Förderinstrumente geschaffen. Es bleibt spannend!

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Interview: Alina Brandstötter

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