Demokratie: Es war einmal.
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Gesellschaft ist eine Idee - gewonnen aus Geschichten und Erzählungen, aus Märchen und Mythen - gleich einem Panoptikum aus Narrativen, die unseren Blick auf das schärfen, was uns passiert ist. Es waren Geschichten, die Menschen auf Berge brachten, über Flüsse führten, entlang unpassierbarer Pässe, durch Kälte und Nässe, durch trockene Täler, durch die Nacht, die nie endet - Geschichten, die sie zu Thron und Krone brachten oder in Grab und Graben. Geschichten haben Menschen dazu bewegt, sich zu bewegen, sie haben Worte zu Wahrheiten gemacht. Und dennoch unterscheiden wir zwischen Geschichte und Realität?
Auch die Demokratie ist eine Geschichte, die - wie jede andere - davon geprägt ist, wer sie aufschreibt und erzählt. Wenn wir über Demokratie sprechen, sagen wir: Alle dürfen entscheiden. Doch wir meinen: Die Mehrheit darf entscheiden. Darf gestalten, darf verwalten, darf Geschichte schreiben.
Diese Unwucht, diese Lücke zwischen Versprechen und Praxis, zeigt sich besonders deutlich im globalpolitischen Klima, das zunehmend von populistischen und autoritären Strömungen geprägt ist. Der weltweite Rechtsruck speist sich aus der Hegemonie dominanter Narrative, die Angst und Ausgrenzung fördern, anstatt Vielfalt und Solidarität zu stärken. Marginalisierte Gruppen tragen die Hauptlast dieser Entwicklungen – sie werden nicht nur ausgeschlossen, sondern gezielt zum Feindbild stilisiert, um Machtansprüche zu sichern.
Sie zeigt sich auch in den Leben jener, die vom System an den Rand gestellt werden. Junge Menschen, die mehrfache Marginalisierung erfahren, die markiert werden – sei es durch Sprache, Herkunft, soziale Umstände oder Geschlecht – erleben Demokratie nicht als Bühne, sondern als Barriere. Ihre Geschichten werden nicht erzählt oder ihnen gilt kein Gehör. Ihre Perspektiven bleiben unsichtbar, und damit bleiben auch die Systeme unsichtbar, die sie ausschließen.
Wer gehört wird, wer schweigen muss
Die Demokratie behauptet, alle Stimmen zählen zu lassen, doch sie spricht oft nur mit jenen, die sich durch die Strukturen navigieren können. Wer keinen Zugang zu politischer Bildung hat, wer in Armut lebt oder keinen Pass eines „richtigen“ Landes besitzt, wird selten gefragt, welche Geschichte erzählt werden soll. Und doch werden diese Menschen Teil der Erzählung – nicht als Protagonist*innen, sondern als Objekte fremder Narrative.
Insbesondere Jugendliche tragen diese doppelte Last. Über sie wird viel gesprochen, doch selten mit ihnen. Sie sind Hoffnungsträger*innen und Sündenböcke, „die Zukunft“ und „das Problem“, je nachdem, welcher Agenda sie dienen sollen. Ihre Perspektiven bleiben außen vor, ihre Geschichten fehlen. Dabei sind es oft genau diese Geschichten, die eine Gesellschaft verstehen muss, um sich selbst zu verändern. Marginalisierung ist kein Zufall. Sie ist das Ergebnis von Strukturen, die Macht verteilen – ungleich, ungerecht. Sie trennt diejenigen, die gehört werden, von denen, die schweigen müssen. Wer Teil der Mehrheits- bzw. Dominanzgesellschaft ist, dessen Stimme schwingt mit im Chor der Demokratie. Wer an den Rändern steht, dessen Stimme hallt in der Leere, ungehört.
Kunst als Gegenerzählung
Doch es gibt Wege, das Schweigen zu brechen. Kunst ist einer davon. Kunst schafft Räume, in denen das Unsichtbare sichtbar und das Unhörbare laut werden kann. Sie eröffnet die Möglichkeit, sich jenseits der dominanten Strukturen zu äußern, eigene Geschichten zu erzählen und die Welt von den Rändern her neu zu begreifen.
Wenn Jugendliche, die marginalisiert werden, ihre eigenen Geschichten gestalten, geschieht etwas Radikales. Sie übernehmen die Kontrolle über das, was über sie gesagt wird – und schreiben ihre eigene Realität. Das ist keine bloße Übung in Kreativität, sondern ein demokratischer Akt. Es ist der erste Schritt, um Teilhabe nicht nur zu fordern, sondern zu leben.
Kunst wird hier zu einem demokratischen Werkzeug. Sie schafft Bühnen, die Barrieren überwinden: Performances, Filme, Gedichte, Bilder. Diese Werke sind mehr als Ausdrucksmittel; sie sind Gegenentwürfe zu einer Erzählung, die oft nur die Privilegierten zitiert. Sie zeigen die Vielfalt der Stimmen, die unsere Gesellschaft ausmachen – und die wir allzu oft übersehen.
Demokratie als unvollendete Geschichte
Demokratie ist keine fertige Geschichte. Sie ist ein Fragment, ein Entwurf, der täglich ergänzt und verändert wird. Sie wächst mit den Stimmen, die sich Gehör verschaffen, und sie leidet unter den Lücken, die das Schweigen hinterlässt. Wenn wir von Demokratie sprechen, dürfen wir nicht nur von Macht sprechen, sondern müssen von Möglichkeiten sprechen.
Die Möglichkeiten, die uns fehlen, liegen in den Erzählungen, die wir ignorieren. Was passiert, wenn wir die Geschichten derjenigen hören, die nicht von Mehrheiten getragen werden? Was entsteht, wenn wir die Erzählung nicht länger allein von Zentren aus spinnen, sondern von den Rändern her neu verweben?
Diese Fragen führen zu einer Erkenntnis, die banal klingt, aber radikal ist: Demokratie ist nur so stark wie die Vielfalt ihrer Stimmen. Sie braucht Widersprüche, Konflikte und vor allem Geschichten, die anders sind als die gewohnten. Nicht, weil sie uns gefallen müssen, sondern weil sie uns zeigen, was wir noch nicht sehen.
Jede Stimme zählt
Gesellschaft ist eine Idee, geformt durch Erzählungen. Demokratie ist eine dieser Erzählungen, doch sie kann nur dann lebendig bleiben, wenn sie ständig neu erzählt wird – und zwar von allen, nicht nur von einigen.
Die Geschichten, die wir brauchen, sind oft unbequem. Sie stellen das in Frage, was wir als selbstverständlich ansehen, und sie öffnen Räume, in denen Neues entstehen kann. Sie kommen von denjenigen, die wenig besitzen außer ihrer Stimme. Aber genau diese Stimme ist es, die unsere gemeinsame Geschichte reicher macht.
Denn am Ende zählt jede Geschichte. Und jede Geschichte verdient es, gehört zu werden.
Text: Mahir Yıldız (Filmemacher), Esma Bošnjaković (Comic-Künstlerin), Jonas Scheiner (Schriftsteller). Gemeinsam sind sie das Leitungsteam des Jugendprojekts „Demokratie, was geht?“ in Wien. Sie beschäftigen sich künstlerisch, aktivistisch und pädagogisch mit gesellschaftlicher Teilhabe und Empowerment von marginalisierten Gesellschaftsgruppen und einem Fokus auf Jugendarbeit.
„Demokratie, was geht?“ ist ein integratives Kulturvermittlungsprojekt für und mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Österreich. Durch eine spielerische Auseinandersetzung mit verschiedenen Kunstformen erhalten Teilnehmende die Möglichkeit, eigene Narrative selbstbestimmt zu gestalten und entwickeln ein identitätsstärkendes Gefühl der Selbstwirksamkeit im Kollektiv. Für mehr Sichtbarkeit und Partizipation – eine Bühne für alle.
www.demokratiewasgeht.net
Die begleitenden Bilder dieses Artikels stammen von den bisher durchgeführten Workshops sowie dem dreitägigen Festival, das vom 21. bis 23. September 2024 in der Ovalhalle und Arena21 des MQ stattgefunden hat.