Bewegungen wie der Schmelzprozess im Eis
Ein Ausgangspunkt für „_melt_“ ist der Gletscher. Ein Gletscher ist eine Eismasse in Bewegung, üblicherweise langsam und sich ständig erneuernd, in Anbetracht der Klimakrise aber in einem rasenden Tempo. Wie ist dieses Bild des Gletschers bei dir entstanden und warum arbeitest du damit?
Olivia Hild: Das Bild des Gletschers ist eines der zentralen Bilder im Stück. Dabei interessieren mich in erster Linie die unterschiedlichen Zeitlichkeiten: Einerseits wissen wir schon seit Jahrzehnten um die Brisanz der Klimakrise und das Gletscherschmelzen und sehen diesen Entwicklungen beim Fortschreiten zu. Diese Vorhersehbarkeit in der Zeitachse interessiert mich. Gleichzeitig ist das Phänomen der Verzögerung aktiv: Der Gletscherrückgang den wir heute beobachten ist laut Wissenschaft eine verzögerte Reaktion auf die Klimaveränderungen vor Jahren, somit fungiert der Gletscher wie ein Sensor, der Vorgänge vergangener Zeit anzeigt - wie ein Echo. Die dritte Zeitlichkeit ist, dass beim Schmelzvorgang lange nichts sichtbar ist, obwohl die Schmelzbewegung in den Molekülen schon lange fortschreitet. Die Plötzlichkeit zwischen einer unsichtbaren Bewegung und einer massiven Bewegung und deren Zusammenhang finde ich faszinierend. Die vierte Zeitlichkeit ist, dass der Gletscher ephemer ist und somit in seiner Referenz existentiell.
Neben dem Gletscher sind zentrale Bilder des Schmelzens: der physikalische Schmelzprozess und ein emotionales Schmelzen maßgeblich inspirierend für _melt_.
Im Ankündigungstext heißt es, dass die Performenden den Zustand des Schmelzens entdecken – was wird uns da auf einer Bewegungsebene erwarten?
Olivia Hild: Die Tänzerinnen setzen sich mit Bewegungen auseinander, die einerseits vom Schmelzprozess im Eis inspiriert sind: sanfte Vibrationen, Bewegungen wie kleine Risse, Verschiebungen, Fallen, Rutschen, Treiben, Drücken. Das Thema wird auch auf emotionaler Ebene aufgegriffen und da beschäftigen sich die Tänzerinnen mit dem Festhalten, durch etwas durchbrechen, loslassen, den Weg frei machen, mit Phasen von Akzeptanz. Gleichzeitig spielen die Performerinnen mit ihrer Muskelspannung zwischen einem hohen, angespannten Tonus und Momenten des Nachlassens.
Ihr seid gemeinsam als Team auch zum Hintertuxer Gletscher gereist, um dort Tonaufnahmen zu machen. Wie klingt ein Gletscher und wie wird dieser als Sound in der Performance spürbar sein?
Olivia Hild: Wir waren in einer Eishöhle im Hintertuxer Gletscher und es war gar nicht leicht, da rein zu kommen. Die Besitzer:innen haben uns mehrmals gesagt “da schmilzt nix” . In der Eishöhle sind Aufnahmen von Händen auf dem Eis entstanden, von Schritten im Eis, auch von Wasserbewegungen in kleinen Seen, die sich im Innenraum von Gletschern bilden. Lens Kühleitner kreiert die Soundkulisse des Stücks live und verwendet bearbeitete Samples dieser Aufnahmen, sowie elektronische Sounds und Stimme. Besonders die Klänge, die in physischer Interaktion mit dem Eis entstanden sind, haben Lens interessiert. Dass Lens selbst auch Performance und Tanz macht, hat ermöglicht, dass der Zugang zur Soundkreation sehr mit dem Prozess der Tanzkreation einherging und sich gegenseitig beeinflusste.
Das Bühnenbild wird eine entscheidende Rolle in der Performance einnehmen – kannst du uns schon mehr darüber verraten?
Olivia Hild: Ja gerne: Das Bühnenbild wurde von Jakob Blazejczak entworfen und kreiert. Wir im Team nennen es den “Berg”: Ein Konstrukt aus Stahlstangen mit Platten, welche in schwarzem Plastik überzogen sind. Diese szenografische Skulptur ist ein Gebilde im Raum, das unterschiedliche Raumebenen eröffnet. Der Ausgangspunkt war, dass mich eine Bewegung von oben nach unten interessiert hat. Und daran hält auch die Dramaturgie fest, wie ein Tropfen, der sich den Weg mit der Schwerkraft nach unten sucht. Das Bühnenbild ist offen in der Interpretation und lässt zu, dass das Publikum in einen eigenen “Schmelzraum” eintritt.